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Foto (c)  Berlinale 2022/Silk Road Filmproductions

Von Töchtern und Müttern

Ein anrüchiger Eröffnungsfilmund drei filmische Entdeckungen. Ein Streifzug durchs Berlinale-Panorama. Der iranische Stoff „Ta Farda“ von Ali Asgari rüttelt auf und verdient ebenso einen Kinostart wie das deutsche Debüt „Alle reden übersWetter“ von Annika Pinske.

Der Eröffnungsfilm der Sektion Panorama der 72. Berlinale „Nobody’s Hero“von Alain Guiraudie („Stranger By the Lake“) ließ nicht nur die Hauptfigur, sondern auch den Zuschauer äußerst unbefriedigt zurück. Médéric (Jean-Charles Clichet), ein unattraktiver Mann um die 30 verliebt sich in die viel ältere Prostituierte Isadora (Noémie Lvovsky). Er will unbedingt mit ihr schlafen, aber nicht dafür bezahlen, da er sie zu lieben glaubt. Die nymphomane Isadora willigt amüsiert ein, doch imHotel kommt es zum witzig-frivol inszenierten Coitus interruptus, weil in unmittelbarer Nähe ein Terroranschlag verübt wurde.

Familienfragen

Der unterbrochene Beischlaf wird fortan zum Running Gag in diesem merkwürdigen Film, der Satire sein will, aber letztlich nur eine Ansammlung fader Stereotypen bietet. Eine sexgeile Prostituierte, die immer wieder freiwillig zu ihrem brutalen Ehemann zurückkehrt? Das funktioniert heutzutage glücklicherweise nicht mal mehr als Satire. Aber es kommt noch schlimmer. Im Hausflur erwartet Médéric der arabischstämmiger Junge Sélim (Illiès Kadri), der ihn bittet, dort übernachten zu dürfen. Fortan schwankt Médéric, ebenso wie die skurrile Hausgemeinschaft, die wohl exemplarisch für die französische Gesellschaft stehen soll, zwischen Islamphobie und Altruismus.

Diese beiden Handlungsstränge, Médérics Liebe zu der lüsternen Prostituierten, dem feuchten Wunschtraum rückwärtsgewandter Männer, sowie die latente Fremdenfeindlichkeit der Franzosen haben eigentlich nichts miteinander zu tun und lassen den Film dramaturgisch scheitern. Und sich recht platt und chauvinistisch über Sexarbeiterinnen, häusliche Gewalt und Islamophobie zu amüsieren – nein, solche Filme möchte man 2022 nun wirklich nicht mehr sehen.

Gelungener waren da andere Sektionsbeiträge. Auch in Alauda Ruiz de Azúas Langfilmdebüt „Cinco lobitos“, für den die Regisseurin auch das Drehbuch verfasste, ist die Grundkonstellation zunächst recht unzeitgemäß, doch besonders in der zweiten Hälfte entwickelt sich daraus ein berührender Film über die ach so unvollkommene Familie, in der doch am Ende jedes Mitglied einfach versucht, sein Bestes zu geben. Die 35-jährige Amaia, gespielt von der Spanierin Laia Costa, die bereits 2015 in Sebastian Schippers „Victoria“zu beeindrucken wusste, ist gerade zum ersten Mal Mutter geworden. Doch ist sie mit dem Kind überfordert, zumal ihr Mann Javi (Mikel Bustamente aus „Haus des Geldes“), ein Lichtdesigner, schon bald nach der Geburt einen Job annimmt, durch den er längere Zeit nicht zu Hause ist. Die erschöpfte Mutter beschließt, Zuflucht und Unterstützung bei ihren Eltern zu suchen, die im Baskenland ein Haus am Meer besitzen. Doch schon bald erleidet die zänkische, verbittert wirkende Mutter Begoñia (Susi Sanchez) einen Schlaganfall, was ihren Gatten Koldo (Ramón Barea) überfordert. Nun muss sich Aimana um Kind und Mutter kümmern, eine Aufgabe, an der sie wächst und erkennt, wie ähnlich sie sich doch im vielen sind. 

Um die liebe Familie, aber auch um die Suche nach einem Platz in der Gesellschaft geht es auch in dem sehr gut beobachteten DFFB-Abschlussfilm „Alle reden über das Wetter“ von Annika Pinske. Man merkt ihrem Film an, dass sie als enge Assistentin von Maren Ade an deren hinreißender Dramödie „Toni Erdmann“ mitgearbeitet hat. Pinskes ehrgeizige Protagonistin Clara (Anne Schäfer) promoviert – mit 39 – in Berlin über Intersubjektivität und Familie bei Hegel. Ihre Familie wohnt in der mecklenburgischen Provinz. Als sie zum 60. Geburtstag ihrer Mutter Inge (Anne-Kathrin Gummich) mit ihrer Teenager-Tochter Emma fährt, merkt sie, wie weit sie sich von ihren Wurzeln entfernt hat. Es mangelt in dieser Familie allerdings auch schmerzlich an der Fähigkeit, echte Gespräche zu führen. Mehr als die Bemerkung, dass ihre Doktorarbeit aber ganz schön lange dauert, ist einfach nicht drin. Dennoch steckt die Großmutter (Christine Schorn) Clara beim Abschied liebevoll etwas Spritgeld zu und beim gemeinsamen Kreuzworträtsellösen mit der Mutter spürt man die einstige Nähe zwischen den beiden Frauen, die sich so weit voneinander entfernt haben. Der Graben zwischen der ins Bildungsbürgertum aufgestiegenen Clara und denen, die dageblieben sind, ist einfach riesig. 

Doch auch in der Stadt sitzt Clara mit ihrer Ostbiografie zwischen allen Stühlen. Bei einer dünkelhaften Feier der Unielite, in die sie trotz ihrer Leistungen nie so recht hinein passen wird, erfindet sie aus lauter Not einen Diplomatenvater, der sich nach der Wende erschossen hat. Das verschlägt den blasierten Bildungsbürgern aus dem Westen wenigstens mal für einen Moment die Sprache. Auch als Mutter einer Tochter lebt Clara ein ungewöhnliches Modell. Während Emma beim konservativen Vater (Ronald Zehrfeld) mit Haus am See, Rasenmähertraktor und neuer Familie wohnt, ist ihre Tochter in ihrer Kreuzberger-WG nur gelegentlich zu Gast. Heimat heißt für sie, verstanden zu werden, sagt Clara einmal, bis dahin ist es noch ein weiter Weg für Piskes Protagonistin, die viele Gemeinsamkeiten mit der 40-jährigen Regisseurin aufweist. Man möchte ihr dazu gratulieren, ihn beschritten zu haben.

Einen Kinostart hätte der Film ebenso verdient wie der iranische Stoff „Ta Farda“ vonAli Asgari. Der Berlinale gelingt es immer wieder, irankritische Filme, die ein authentisches Bild der Lage im Land zeichnen, zu zeigen. In Asgaris Drama geht es um die Studentin und alleinerziehende Mutter Fereshteh (Sadaf Asgari), die in Teheran lebt. Ihre Eltern wissen nichts von dem unehelichen Kind – doch nun haben sie sich kurzfristig für einen Besuch angekündigt. Fereshteh bleiben 24 Stunden, um das Baby irgendwo unterzubringen und alles, was auf seine Existenz hinweist, aus ihrer Wohnung zu entfernen. Doch selbst das erweist sich als schwieriges Unterfangen. Letztlich muss sie einige Sachen auf dem Dach des Hauses abstellen.

Der Atem stockt

Gemeinsam mit ihrer beherzten Freundin Atefeh (Ghazal Shojaei, bekannt aus der Arte-Serie „Happiness“) beginnt nun eine unvorstellbar anstrengende, hauptsächlich mit der Handkamera gefilmte Odyssee durch Teheran, um das Baby für eine Nacht irgendwo unterzubringen. Dabei stoßen die Studentinnen, die von Auswanderung träumen, auf alle denkbaren Hindernisse des unmenschlichen patriarchalen Regimes im Iran: Bekannte verweigern ihr die Hilfe aus Angst, in Verruf zu geraten, die befreundete Anwältin wurde ohne Angabe von Gründen inhaftiert, der ängstliche Kindsvater hat panische Angst davor, dass sein Vater von seiner unehelichen Tochter erfährt. Zu allem Überfluss droht der Chefarzt in einem Krankenhaus, in dessen Fänge sie und ihr Baby kurzfristig geraten, sie anzuzeigen und versucht, Fereshteh sexuell zu erpressen. Ins Hotel könnte ihre beste Freundin mit dem Baby auch nicht, denn das ist alleinstehenden Frauen im Iran nicht erlaubt. Ebenso wenig kann Atefeh das Kind ins Studentenwohnheim mitnehmen, da sie exmatrikuliert würde, falls dies bemerkt würde. Am Ende trifft Fereshteh wieder eine sehr mutige Entscheidung, die dem gebannt ihrem Trip durch Teheran folgenden Publikum kurz den Atem stocken lässt.

In “Die Rheinpfalz” von März 2022