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Foto (c) 2017 Alamode Film

Abschied mit einem Lächeln

„Du bist nichts!“, schleudert Lucky dem Besitzer eines Diners jeden Morgen rituell entgegen. „Du bist auch nichts!“, erwidert dieser stets, worauf der 90-jährige Nihilist sich bei ihm bedankt. Harry Dean Stanton, der in seinem Leben in zahlreichen Nebenrollen stets Variationen seiner selbst verkörpert hat, spielt diesen titelgebenden „Lucky“ unter der Regie von John Caroll Lynch. Niemals, selbst nicht in Wim Wenders‘ „Paris, Texas“, schien eine Filmfigur dem Ausnahmeschauspieler Stanton dermaßen auf den Leib geschrieben. Denn das wurde sie: Einer der beiden Drehbuchautoren, Logan Sparks, ist ein langjähriger Freund Stantons, und den erwähnten verbalen Schlagabtausch lieferte sich der markante Nebendarsteller in der Wirklichkeit mit einem Empfangsmitarbeiter seines Stammrestaurants in Los Angeles.

Irgendwo in einem von Kameramann Tim Suhrstedt in sehnsuchtsvollen Cinemascope-Bildern eingefangenen Kaff am Rande der Wüste von Arizona, wo man auch ausgezeichnet einen Western hätte drehen können, wohnt Stantons Alter Ego Lucky. Der 90-Jährige ist noch sehr rüstig und lebt allein in einem kleinen Häuschen. Sein Tagesablauf ist in etwa immer gleich. Aufstehen, waschen, fünf schlampig ausgeführte Yoga-Übungen mit der obligatorischen Zigarette in Griffnähe, dann – nach einem am Abend zuvor zubereiteten Eiskaffee – begibt Lucky sich ins Diner, um Joe (Barry Shabaka Henley) ruppig zu begrüßen und ein Kreuzworträtsel zu lösen.

Denn der Eigenbrötler und überzeugte Atheist denkt gerne und ausgiebig nach, zu Hause hat er sogar ein Wörterbuch auf einem Stehpult installiert, in dem er regelmäßig Wörter nachschlägt. Seine gewonnenen Erkenntnisse verkündet er bei einer Bloody Mary in einer Bar, die ebenfalls hauptsächlich von bekannten Nebendarstellern wie Beth Grant, James Darren und Ron Livingston bevölkert wird.

Zu den Stammgästen zählt auch der schrullige Howard, der von einem weiteren Wegbegleiter Stantons, David Lynch (übrigens nicht mit John Carroll Lynch verwandt) gespielt wird. Lynch besetzte den einmaligen Charakterkopf regelmäßig in seinen Filmen – von „Twin Peaks – Fire Walk with Me“ bis zu „The Straight Story“. Howard ist untröstlich, da seine geliebte Schildkröte President Roosevelt, die zu Beginn des Films bereits als extrem langsamer „Running Gag“ eingeführt wurde, abgehauen ist.

Eines Morgens kippt Lucky vor seiner Kaffeemaschine einfach um. Der von ihm aufgesuchte Arzt, mit dem er sich einen überaus melancholisch-witzigen Wortwechsel liefert, bestätigt dem Kettenraucher jedoch eine erstaunliche Gesundheit. Allerdings werde auch er unaufhaltsam alt.

Diese Erkenntnis bohrt sich gemächlich durch Luckys Alltagstrott, und er beginnt, sich grundlegende Fragen über die Vergänglichkeit und das Wesentliche im Leben zu stellen. So öffnet sich der streitsüchtige Alte, der von allen im Dorf gemocht wird, angesichts des Todes noch ein bisschen mehr dem Leben. Er gesteht einer Kellnerin, dass er Angst vor dem Tod hat, schenkt ein paar Heimchen, die in einer Tierwarenhandlung auf ihren Einsatz als Fischfutter warten, das Leben und tauscht sich in einer wunderbaren Szene mit einem anderen Kriegsveteran aus.

Gegen Ende des Films verabschiedet sich Harry Dean Stanton als Lucky mit einem herzzerreißenden, spanischen Lied und schließlich mit einem Lächeln aus diesem Leben und diesem wunderbaren Film – der so viel mehr ist als die Summe seiner einzelnen Szenen.

„Lucky“ in Prisma von März 2018