Foto: (c) Long Way Home Productions 2015
Gut gespielt, junger Löwe
Das Identitäts-Drama „Lion“ besticht vor allem durch seinen umwerfenden, blutjungen Hauptdarsteller.
Ein indischer Junge verliert im Alter von fünf Jahren seine Familie und findet sie nach einem Vierteljahrhundert wieder – mit Hilfe von Google Maps. Klingt unglaublich? Tatsächlich ist es eine wahre Geschichte, die dem sechsfach oscarnominierten Drama „Lion“ zugrundeliegt: die von Saroo Brierley, der sie in seinem Bestseller „Mein langer Weg nach Hause“ erzählte. Das Langfilm-Regiedebüt von Garth Davis wartet nun mit Starbesetzung auf. Der erwachsene Saroo wird von „Slumdog Millionär“ Dev Patel gespielt, auch Nicole Kidman und Rooney Mara haben größere Rollen. Doch die eigentliche Sensation des Films ist der achtjährige Newcomer Sunny Pawar, der Saroo als kleinen Jungen verkörpert. Ihm gehört die fast dokumentarisch anmutende erste Stunde des Films, der klugerweise chronologisch erzählt wird.
Die Geschichte beginnt 1986 in Khandwa in Mittelindien. Der für den Oscar nominierte Kameramann Greig Fraser lässt den Zuschauer das von Armut, aber auch starkem familiären Zusammenhalt geprägte Leben des pfiffigen Steppkes Saroo nahezu durchweg auf Augenhöhe miterleben. Gemeinsam mit seinem heißgeliebten älteren Bruder Guddu (Abhishek Bharate) versucht der Junge, dessen Name übersetzt „Löwe“ bedeutet, bereits nach allen Kräften seine Mutter zu unterstützen. Eines nachts überredet er Guddu, ihn mit zur Nachtarbeit zu nehmen. Dummerweise wird der kleine Junge müde und steigt in einen leeren Zug, um ein wenig zu schlafen, während sein Bruder unterwegs ist.
Als Saroo erwacht und feststellen muss, dass er ohne Zwischenstopp in das 1.600 Kilometer entfernte Kalkutta unterwegs ist, fühlt man sich dank der einfühlsamen Inszenierung fast genauso verloren wie der rehäugige Junge. Ohne sich noch richtig an den Namen seines Heimatstädtchen zu erinnern oder ein Wort der dortigen Landessprache Bengalisch zu sprechen, wird er plötzlich von dieser überfüllten Millionenstadt verschluckt. Dank seines untrüglichen Selbsterhaltungstriebs entgeht er jedoch Missbrauch und Kinderfängern und landet schließlich in einem Waisenhaus.
Saroo hat Glück im Unglück, er wird von dem warmherzigen tasmanischen Ehepaar Sue (Nicole Kidman) und John (David Wenham) adoptiert. Es ist vor allem der endlich wieder einmal großartigen Performance von Nicole Kidman zu verdanken, dass man sich als Zuschauer in der zweiten Hälfte des Dramas durch diesen typischen-Hollywood-Stoff nicht zu sehr manipuliert fühlt. Wenngleich Kidmans 80er-Jahre-Frisur einem gelegentlich ein unpassendes Schmunzeln auf die Lippen zaubert.
Der zu einem löwenmähnigen jungen Mann herangewachsene Saroo (Dev Patel) beginnt schließlich in Melbourne Hotelmanagement zu studieren. Dort verliebt er sich in seine Kommilitonin Lucy (Rooney Mara), ein Handlungsstrang der leider auch nur unbefriedigend angerissen wird. Als Lucys Familie zum Essen einmal die indische Süßspeise Jalebi auftischt, jene frittierten indischen Teigspiralen, die Guddu und er sich in seiner Kindheit nie leisten konnten, bricht sich die Erinnerung plötzlich Bahn.
Fortan ist Saroo besessen davon, mittels Google Earth seine Familie wiederzufinden. Seine Liebe zu Lucy zerbricht daran, und auch seine innige Beziehung zu seiner Adoptivmutter bekommt empfindliche Risse. Ist er doch hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, seine Familie wiederzufinden, und dem Wunsch, seine wundervolle Adoptivmutter nicht zu verletzen.
Die Geschichte des erwachsenen Saroo fällt im Vergleich zu dem perfekten ersten Teil ab, unter anderem, weil Dev Patel seinen Saroo leider nicht so natürlich zu verkörpern weiß wie sein blutjunger Kollege. Zumal der aufdringliche Musikeinsatz gelegentlich alles mit Rührseligkeit zuzukleistern droht. Warum „Lion“ dennoch für den Oscar in der Sparte „Musik“ nominiert ist, bleibt zumindest ein Rätsel, trotzdem steht er unter dem Strich verdient auf der in diesem Jahr hochkarätigen Liste für den „Besten Film“. Gut gespielt, junger Löwe.
Stimme / Feb. 2017