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Fotos: Gabriele Summen

Der tote Kapitalismus, so lebendig

Leopold Grün und Dirk Uhlig dokumentieren in ihrem neuen Film die Gemeinschaft eines Dorfs in Mecklenburg-Vorpommern. Dort gibt es nichts, außer Solidarität. Gabriele Summen (Text und Fotos) hat sich beim Ortstermin zwischen Selbstversorgern, Alltagsphilosophen und Schlossgeistern von der Wahrhaftigkeit des Lebens in Wischerhausen überzeugt.

Am 24. Oktober startet ein Dokumentarfilm über das gottverlassene 50-Seelen-Dorf  Wischershausen in Mecklenburg-Vorpommern in den Kinos. Dessen Handlung spielt sich, wie der poetische Filmtitel verheißt, gewissermaßen »Am Ende der Milchstraße« ab. Schnarch! Könnte man jedenfalls denken – und die vielleicht eigensinnigste und berührendste Doku des Jahres verpassen. Ein Ensemblefilm mit ungewöhnlichen Menschen, deren klug angerissene Schicksale den Zuschauer lange beschäftigen.

Dass Wischershausen wirklich existiert, davon können wir Journalisten uns im September auf Einladung der Filmemacher ein Bild machen. Als die Reisegruppe am Ende der einzigen Straße, die es im Ort gibt , aus dem Van steigt, kommen der alltagsweise Technikfreak Harry und die toughe Pferdefrau Gabi, die wir bereits im Film kennenlernen durften, einträchtig auf uns zu. Wenig später brettert der junge, beleibte Melker Oli, ebenfalls ein  »Star« des Films, auf seinem Traktor um die Ecke. Oli verkündet, er müsse noch nach den lammenden Schafen schauen. Dann würde er auch ins Gutshaus kommen, wo später die vom trockenen Humor der Dorfbewohner geprägten Interviews stattfinden sollen.

In der zweiten Gemeinschaftsarbeit von Leopold Grün und Dirk Uhlig (»Der rote Elvis«) werden Harry, Gabi, Oli und weitere Menschen porträtiert, die 150 Kilometer von Berlin entfernt am Rande des Existenzminimums oder darunter leben. Angeregt durch die seit den Neunziger Jahren im Dorf ansässige Ethnologin Christine Nebelung, die bereits in ihrer Untersuchung »Pragmatismus und Visionen. Eigenarbeit in der ostdeutschen ländlichen Gesellschaft“ die Formen der Gemeinschaft in Wischershausen aufgezeichnet hat. »Plötzlich sah man da in ihren Beschreibungen die Menschen auftauchen, und das hat bei uns die Neugier geweckt«, erzählt Leopold Grün. Die Wischershausener sind so arm, dass die Regisseure später im Interview berichten, wie geschockt die polnischen Nachbarn waren, als sie den Dokumentarfilm zu sehen bekamen. Sie hielten es nicht für möglich, dass in Deutschland solche Zustände herrschen.

Obwohl es in Wischershausen seit der Wende weder Arbeit noch Geschäfte, geschweige denn eine Kneipe gibt, weigern sich die Bewohner, das Dorf zu verlassen. Viele von ihnen sind Selbstversorger, wie der Bauer Maxe und die Witwe, Pferdenärrin und fünffache Mutter Gabi, deren Mann nach der Wende seine Arbeit verlor, einen Selbstmordversuch unternahm und sich später zu Tode trank. Das Wenige, was sie erwirtschaften, teilen sie mit den anderen Dorfbewohnern. Zum Beispiel mit dem zugezogenen Alltagsphilosophen und Angelfreund Harry aus Schwerin, der im Film sein aufflammendes Fernweh mit dem überaus weisen Spruch konterkariert: »Es nützt nichts, von weißen Nächten zu träumen und den Fischotter links liegen zu lassen«. Im Gespräch behauptet Harry, er habe gewusst, dass es zum Zusammenbruch der DDR kommen würde. Ein Jahr vorher sei er mal im Westen gewesen, da habe er gesehen  »wie lebendig der sterbende Kapitalismus« sei….

In Wischershausen ist Harry für jegliche Reparaturen zuständig. Während unseres Gesprächs kommt die Nichte der Gutshausbesitzerin vorbei, von den Einwohnern humorvoll  »Schlossgeist« genannt. Sie fragt, ob Harry nach der klemmenden Hollywoodschaukel schauen könnte. Der Mann mit dem grauen Haar, das zu einem nachlässigen Zopf zusammengebunden ist, will sich später darum kümmern. Vorher berichtet er von seinem falschen Rentenbescheid und Zukunftsängsten. Er schließt mit den Worten, dass er eigentlich  »eine positive Grundeinstellung« habe.

Auch die Liebe schweißt die Dorfbewohner zusammen. So werden wir im Film Zeugen, wie Tierwirt Oli, der einen der wenigen Jobs in der nahe gelegenen Milchwirtschaftsanlage ergattert hat, heiratet. Mit seiner Angetrauten posiert er beschwipst in einem der für ihn unerschwinglichen Weizenfelder. Cordula, die Freundin von Maxe, hat in ihrem Leben schon schlimme Erfahrungen mit Männern gemacht.  Sie lebt nur zeitweise in der Dorfgemeinschaft. Noch kann sie sich nicht dazu entschließen, die  kleine Wohnung in Neubrandenburg zu kündigen und somit ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Dann würde sie  »bei Maxe festsitzen und die Viecher füttern. In dem Dorf gibt es ja nichts«, betont Filmemacher Leopold Grün und dass es ihm und seinem Regiekollegen Dirk Uhlig fern lag, »einen romantischen Film über das Dorfleben« zu machen. Gerade die Ambivalenz reizte die beiden: »Was an Not und Härte gezeigt wird, dem wohnt auch etwas Wunderbares inne –  und umgekehrt.« Eine Szene, bei der Maxe gemeinsam mit ein paar Männern in einer stürmischen, bitterkalten Winternacht ein Schwein schlachtet, gehört zu den eindrucksvollsten Filmmomenten. Maxes Sehnsucht nach seinem Leben in der DDR, wo er niemals arbeitslos war, verschafft sich Luft in seinem verzweifelten Ausruf: Von ihm aus könne man  »die Mauer wieder hochziehen.« Und weiter: »Die rote Scheiße ging mir am Arsch vorbei, heute haben die von damals schwarze Füße!«

In die Dorfgemeinschaft von Wischershausen ist, wie Regisseur Grün im Interview unterstreicht  »immer auch ein Abgrund eingeschrieben«. An der einen oder anderen Stelle bedauert man, nicht mehr über das Schicksal einzelner Dorfbewohner zu erfahren. Dennoch weckt gerade die im Schnittraum getroffene Entscheidung der Regisseure, bei einzelnen Protagonisten  »nicht noch mehr ins Biografische zu gehen« im Zuschauer eine besondere  Neugier auf diese solidarischen Menschen.

Die Crew vom Ende der Milchstrasse

Gabriele Summen

»Am Ende der Milchstraße« (D 2012) –  R: Leopold Grün, Dirk Uhlig

Am Ende der Milchstraße / Intro vom 23.10.2013