Foto:© 2013 Sony Pictures Releasing GmbH
Helden und Schurken wider Willen
April 2009: Der Familienvater und erfahrene Kapitän Richard Phillips (Tom Hanks) lässt sich von seiner Ehefrau zu seinem Schiff bringen. Doch es ist nicht irgendein Schiff, es ist das amerikanische Containerschiff “Maersk Alabama”, das von somalischen Piraten gekapert werden sollte. Der Ausgang des realen, fünf Tage währenden Politdramas um einen unscheinbaren Kapitän, der zum Held wider Willen mutierte, ist vielen Zuschauern bekannt. Dennoch gelingt es dem Regiegenie Paul Greengrass (“Bloody Sunday”, “Das Bourne Ultimatum”), den wohl spannendsten Thriller des Jahres auf die Leinwand zu bannen.
Nebenwirkungen können nach 134 Filmminuten nicht ausgeschlossen werden: Dank der genial-hyperaktiven Handkamera des langjährigen Kameramanns von Greengrass, Barry Ackroyd, hat man das Gefühl, Salzwasser auf der Zunge zu schmecken und den Geruch von Schweiß und Angst auf der Kommandobrücke wahrzunehmen. “Captain Phillips” gelingt es darüber hinaus, auf der Grundlage des exzellenten Drehbuchs von Billy Ray (“Die Tribute von Panem”), ein Bewusstsein für die komplexen ökonomischen Zusammenhänge in unserer globalisierten Welt zu schaffen. Ganz ohne pathetischen Patriotismus.
Dies ist vor allem auch das Verdienst der mehr als überzeugenden Hauptdarsteller, allen voran der Extremdrehs gewohnte Tom Hanks, der als unfreiwilliger Held oscarreif um sein Leben spielt. Aber auch sein Gegenspieler, der somalische Ex-Fischer Muse (Barkhad Abdi), dem in der schönen globalisierten Welt beinahe unausweichlich die Rolle des Schurken zugefallen ist, zieht den Zuschauer tief in das Geschehen hinein: Der zähe, magere Kerl vermag in Angst und Schrecken zu versetzen, weckt aber auch Verständnis für die fatale Lage der ehemaligen Fischer. Weil deren Meere leergefischt wurden, müssen sie nun unter der Fuchtel der mächtigen Warlords dem lebensgefährlichen Pirateriegeschäft nachgehen.
Der umsichtige Captain Phillips kann nach einigen nervenaufreibenden Abwehrmanövern nicht verhindern, dass vier zu allem entschlossene, mit Maschinengewehren ausgestattete Piraten das unbewaffnete Frachtschiff kapern, das ironischerweise mit Hilfsgütern für Ostafrika beladen ist. Nach einem nervenaufreibenden Katz-und-Maus-Spiel gelingt es den Angreifern, Phillips als Geisel zu nehmen – der klaustrophobische Teil des Dramas beginnt. Eingesperrt mit vier höchst angespannten Piraten blickt der Zuschauer wieder und wieder in Tom Hanks’ facettenreiches Gesicht, in dem sich im Wechsel alle Nuancen von abgrundtiefer Erschöpfung über kurzfristige kühne Entschlossenheit bis hin zur Todesangst abzeichnen. Schließlich eilt ein mächtiger US-Zerstörer herbei, der Präsident drängt auf eine rasche Lösung, sodass die Lage auf See sich noch dramatischer zuspitzt …
“Ich habe Bosse”, sagt Muse zu Captain Phillips, um sein verbrecherisches Verhalten zu rechtfertigen. “Wir alle haben Bosse”, wendet Phillips ein, und für einen Moment hält der Kinosaal den Atem an. Captain Muse und Captain Phillips, zwei Spielbälle der Mächtigen in einer globalisierten, zutiefst ungerechten Welt.
Gabriele Summen
Captain Philipps in Radio Bonn von November 2013