Das große Om
Dass regelmäßige Yogaübungen entspannen und erfrischen, weiß unsere Autorin seit fast zwanzig Jahren. Dass sie die einen arm und die anderen reich machen, ist aber eine neue Entwicklung. Über teure Studios und dreiste Bio-Piraterie berichtet
Mein persönliches Yoga-Schlüsselerlebnis hatte ich Anfang der neunziger Jahre in einem renovierungsbedürftigen Berliner Studio, wo ich zusammen mit einer Gruppe Gleichgesinnter einen Kopfstand machte. Die Tür öffnete sich, und herein platzte der zeternde Hausmeister, dem irgendetwas nicht passte. Unser wohlwollendes Schweigen schien ihn jedoch augenblicklich zu besänftigen. Er murmelte noch ein paar unverständliche Worte und schloss dann fast zärtlich die Tür hinter sich. Hatte unsere artistisch anmutende Akrobatik diesen, wie wir alle von diversen Ängsten geplagten Mann schlagartig besänftigt? Ist die tiefe Entspannung des Menschen der Schlüssel zu einer besseren, einer friedlicheren Welt? Oder befriedigt die inzwischen äußerst beliebte fernöstliche Gymnastik lediglich die Sehnsucht der Einwohner der westlichen Länder nach einem griffigen Religionsersatz? Auf jeden Fall hat Yoga sich sich zu einem boomenden Wirtschaftszweig entwickelt und ist daher als Gentrifizierungsindikator in Verruf geraten.
Dem Münchner Dokumentarfilmer Jan Schmidt-Garre, dessen Film »Der atmende Gott« kürzlich in den Kinos lief, erging es ähnlich wie mir. Auch er ging aus Neugier zum Yogakurs und war schnell fasziniert von dem erfrischenden Gefühl der gleichermaßen körperlichen wie geistigen Entspannung. Dieser Belohnungseffekt stellt sich auch beim schwerfälligen Anfänger rasch ein, vorausgesetzt er hat mal wieder seinen inneren Schweinehund überwunden und darf sich nach 90 Minuten voller Verrenkungen und Atemübungen in die wohlverdiente »Totenstellung« (Shavasana) begeben.
Schmidt-Garre verschlug es im letzten Jahr auf der Suche nach Antworten auf das Rätsel des Yoga nach Indien, ich dagegen begann Bücher zu wälzen. Das Wörtchen Yoga ist aus dem Sanskrit-Begriff »yui« abgeleitet – was soviel wie »verbinden« bedeutet. Ziel der Yoga-Praxis ist es also, rechts und links, Sonne und Mond, oben und unten und das individuelle Selbst mit dem universellen Selbst zu verbinden. Ursprünglich verstand man unter »yui« passenderweise das Joch, das Tier und Wagen aneinander bindet. Gelingt die Vereinigung der Gegensätze, so sollen wir gar einen vollkommenen Bewusstseinszustand erreichen, in dem – Hilfe! – das Ego nicht mehr existiert. Die ältesten schriftlichen Belege für die yogische Philosophie finden sich in den uralten hinduistischen Schriften, den Veden und Upanishaden. Ein Weiser namens Patanjali hat vor ungefähr 2 000 Jahren in der 196 Aphorismen umfassenden Yoga-Sutra diesen Weg zu höchstmöglicher innerer Freiheit, in der das diskursive Denken aufhört (Samadhi), festgehalten. Darin geht es um ethische Gebote, die richtige Atemtechnik bis hin zur Meditation, sowie um einstudierte Körperübungen (Asanas).
Was motivierte jedoch weiland die Beatles und heutzutage große Teile der deutschen Fußballnationalmannschaft, die Clintons und den Klassenlehrer meines Sohnes gleichermaßen sich diesem Yoga-Joch zu unterwerfen? Weshalb sind bereits die meisten Krankenkassen auf die heilsame und vorbeugende Wirkung des Yoga aufmerksam geworden und finanzieren ihren Mitgliedern entsprechende Kurse? Ein Blick in die indische Philosophie hält womöglich die Antwort bereit: Fünf den Geist trübende Ursachen für Leid (kleshas) versucht man mittels des Yoga im Zaum zu halten: die falsche Interpretation einer Situation (avidya), die Tendenz, sich selbst zu wichtig zu nehmen (asmita), Gier (raga), übertriebene Abneigung (dvesha) und ein buntes Potpourri diffuser Ängste wie z. B. Unsicherheit, Existenzangst, Angst vor Krankheiten und vor allem die Angst vor dem Tod (abhinivesha).
Yoga soll zu Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung führen, was wiederum mehr innere Freiheit und äußere Gelassenheit bringen soll. Bei der Filmpremiere von »Der atmende Gott«, bei der auch zwei inzwischen betagte Kinder des Urvaters des Yogis Sri Tirumalai Krishnamacharya (1888–1989) anwesend waren, sind jedoch die altvertrauten Ängste in jedweder Form zu spüren, und mein »Hausmeister-Erlebnis« wiederholt sich leider nicht. Während auf der Leinwand nie zuvor gezeigte Aufnahmen des überaus gelenkigen Urvaters des Yoga flimmern und sein Meisterschüler Pattabhi Jois, der noch während der Dreharbeiten starb, und der kultige B. K. S. Iyengar, dessen Augenbrauen selbst die des guten alten Theo Waigel in den Schatten stellen, dem Regisseur vor laufender Kamera eine recht beeindruckende Yogastunde geben, geht ständig ein Premierengast auf die Toilette (avidya), raschelt (abhinivesha), gähnt (dvesha) oder schaut auf sein Smartphone (asmita). Nun gut, dies mag zweierlei Gründe haben: Um die eigene, mühevolle Yogapraxis kommt man letztlich nicht herum, will man die Früchte der Entspannung, wie zum Beispiel gegenseitigen Respekt, Gelassenheit und eine gewisse Beherrschung des Schließmuskels, ernten. Zudem ist der sichtlich ambitionierte Film über den Ursprung des Yoga an einigen Stellen zu wenig schlüssig, Interviews brechen abrupt an den Stellen ab, an denen es erst interessant geworden wäre. Dann wiederum lassen zahlreiche historische Filmsequenzen, die von der unglaublichen Körperbeherrschung der Praktizierenden zeugen, oftmals den Sinn und Zweck der Kunst des Yoga völlig in den Hintergrund treten.
Natürlich kann Yoga auch einfach nur gut fürs Bankkonto sein: Das Wall Street Journal schätzt den Börsenwert der internationalen Yoga-Industrie auf 42 Milliarden Dollar, 500 Millionen Euro lassen sich die Deutschen ihre Yogapraxis kosten, Tendenz immer noch steigend. So begann im Jahr 2004 gewissermaßen ein Yoga-Krieg, als der in Kalkutta geborene Bikram Chodhury, der Erfinder des gleichnamigen »Sauna-Turnens«, bei dem man in einem bis zu 40 Grad aufgeheizten Raum eine Serie von Yogaübungen absolvieren soll, auf die geniale Idee kam, sich gewisse Yogastellungen und -reihenfolgen patentieren zu lassen. Heute wird seine merkwürdige Yogapraxis von Washington bis Berlin unterrichtet. Die Sammlung an Bentleys und Rolls Royces des ersten Yoga-Biopiraten soll angeblich sogar die des legendären Bhagwan in den Schatten stellen. Bald darauf erwachte auch die indische Regierung aus ihrer jahrtausendlangen Meditation und hat über 1000 Yogapositionen in ihrer – auch homöopathisches und ayurvedisches Wissen – umfassenden Datenbank TKDL (Traditional Knowledge Digital Library) zusammenfassen lassen. Yoga-Gurus und Wissenschaftler haben sich zusammengetan, um die uralten Schriften, auch die von Patanjali, zukünftig vor Patentpiraten zu schützen. Dafür werden sie aus dem Sanskrit ins Englische, Deutsche, Französische, Spanische und Japanische übersetzt. Die bekanntesten Stellungen wurden sogar in einem eigens erstellten Videokatalog festgehalten. Internationale Patentämter sollen direkten Zugriff auf die Datenbank haben.
In Indien ist es nämlich seit Gurugedenken üblich, dass man Yoga kostenlos in öffentlichen Parks und Ashrams erlernen kann. »Yoga ist doch Indiens Geschenk an die Welt«, wie meine derzeitige Yogalehrerin es ausdrückte, als ich ihr von den »Yogawars« berichtete. Auch in Schmidt-Garres Film scheinen sich die alten Yoga-Meister über das lukrative Geschäft mit der neuen Massentrendsportart zu amüsieren.
Schmidt-Garres filmische Spurensuche endet mit einer wohlüberlegten Schlusseinstellung, dem Regisseur bleibt der Zutritt zu dem kleinen Tempel für Eingeweihte, in dem der atmende Gott Narasimha, dessen Körper laut Überlieferung zu mehreren Millionen Asanas fähig war, verwehrt – weil er kein Hindu ist. Gerade für den Europäer kann der Sonnengruß keine Religion ersetzen, und wer auf schweißtreibende, akrobatische Höchstleistungen aus ist, sollte sich womöglich lieber beim Kunstturnen anmelden.
Hormonyoga kann sicher die Haut wieder zum Leuchten bringen und Wechseljahrbeschwerden verhindern, jedoch nicht das gute alte Voranschreiten der Zeit. Und schließlich sollte man sich in so manchem überteuerten Yoga-Studio einmal fragen, ob der Kopfstand (Sirsasana) lediglich nur noch für die Umkehrung der Werte in bloßes Renditestreben stehen darf.