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Foto: 2014 Disney Enterprises, Inc. All Rights Res. / Jonathan Olley

Wunderbare Weltflucht

Bekannte Geschichte, gekonnte Inszenierung: Shakespeare-Regisseur Kenneth Branaghs Realverfilmung von „Cinderella“ bezaubert in unerwartetem Ausmaß.

Die Zeiten sind nicht gerade rosig: Rund um Europa wird gekämpft, der Klimawandel ängstigt die Menschheit, Terrorakte halten die Welt in Atem. Zudem lassen ein Höchstmaß an Flexibilität im Kampf um unsichere Arbeitsplätze und die rasante Digitalisierung wenig Raum für Muße und Romantik. Vielleicht ist das eine Erklärung für die große Zahl an Märchen-Neuverfilmungen, die gerade in die Kinos kommt. Ein bisschen Weltflucht in Zeiten der Krise kann schließlich heilsam sein. Schon 1951 prämierte die noch kriegstraumatisierte Berlinale-Jury den entzückenden „Cinderella“-Zeichentrickfilm aus dem Hause Disney mit einem Goldenen Bären. Dass Regisseur Kenneth Branagh seine Realverfilmung des Märchen-Stoffes bei dem Festival in Berlin seine Weltpremiere feiern ließ, erscheint da fast folgerichtig. Seine Interpretation lief zwar nur außer Konkurrenz, ist aber ein preisverdächtiger, magisch-unterhaltsamer Augenschmaus.

Und das, obwohl Branagh, bekannt für seine Inszenierungen von Shakespeare-Dramen, den vielfach verfilmten Stoff sogar recht konventionell erzählt und sich eng an die Originalvorlage hält. Doch die Autoren Aline Brosh McKenna und Chris Weitz verstehen es, den bekannten Charakteren eine psychologische Tiefe zu verleihen, die den Zuschauer in ihre Gefühlswelt entführt. Gemeinsam lassen sie die Geschichte etwas früher einsetzen als bei früheren Verfilmungen: Sie zeigen das fröhliche Mädchen Ella (Eloise Webb), das in einer an Kitsch grenzenden harmonischen Umgebung, eine glückliche Kindheit erlebt. Als urplötzlich Ellas Mutter schwer erkrankt, nimmt sie ihr noch vor ihrem Tod das Versprechen ab, immer mutig und gütig zu bleiben.

Diesen Ratschlag versucht Ella auch noch zu beherzigen, als der Vater erneut heiratet: Ihre neue Stiefmutter ist die gefühlskalte und habsüchtige Lady Tremaine (furchteinflößend sadistisch verkörpert von Cate Blanchett), die mitsamt ihren beiden fiesen Töchtern Drizella (Sophie McShera) und Anastasia (Holliday Grainger) bei ihnen einzieht. Nicht nur deren – von der mehrfach oscarprämierten Kostümbildnerin Sandy Powell entworfenen – Kostüme sind eine Augenweide.

Denn auch wenn die weitere Geschichte landläufig bekannt sein dürfte, lebt „Cinderella“ – nicht nur durch den Auftritt Blanchett als Stiefmutter – von einer erstklassigen Schauspielbesetzung. Dazu gehört vor allem die überaus anmutige „Downton Abbey“-Darstellerin Lily James, die nun die mittlerweile zu einer wunderschönen, jungen Frau herangereifte Ella verkörpert. Sie hat wenig zu lachen, wird von ihrer neuen Familie im eigenen Heim wie eine Dienstmagd behandelt und nachdem ihr Vater stirbt, verschlimmert sich ihre Lage noch.

Die bösartigen Schwestern verpassen der jungen Frau, die am warmen Ofen schläft, den Namen Cinderella („cinder“ bedeutet Asche). Als der heiratswillige Prinz – ausgerechnet gespielt von Richard Madden, der sonst eher äußerst blutige Hochzeiten in der Fantasy-Serie „Game of Thrones“ feiert – alle unvermählten, jungen Frauen seines Staates zu einem Ball einlädt, darf Cinderella nicht mitkommen. Dabei ist sie dem Prinzen sogar bereits inkognito im Wald begegnet, die beiden haben sich unsterblich ineinander verliebt – und so mancher Zuschauer hat bei dieser herrlich romantischen Szene ein heimliches Tränchen verdrückt.

Zum Glück tritt nun die ein wenig chaotische Fee, wunderbar verkörpert von Helena Bonham Carter, auf den Plan. Sie schenkt Cinderella nicht nur traumhafte – von Swarowski entworfene – Glasschuhe, sondern verzaubert ihre einzigen Freunde, ein paar kecke, computeranimierte Mäuse, in herrliche Schimmel und einen Kürbis in eine goldene Kutsche. Deren Zurückverwandlung um Mitternacht gehört zu den virtuosesten Animationsszenen dieser opulenten Retro-Cinderella-Verfilmung.

Nachdem Aschenputtel erst kürzlich im Märchen-Mashup „Into the Woods“ als moderne, zweifelnde Frau interpretiert wurde, darf bei Branagh die Hauptfigur wieder ein Ausbund an Güte und Selbstlosigkeit sein. Diese bezaubernden Eigenschaften kann man als Zuschauer getrost hinaus in die komplexe und konfliktreiche Realität nehmen.

Stimme / März 2015