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Foto: (c) Polyband / Jojo Whilden

Für immer verloren?

Großartige Schauspielleistungen: Oscargewinnerin Julianne Moore, aber auch Kristen Stewart brillieren in “Still Alice – Mein Leben ohne Gestern”, einem äußerst empathisch inszenierten Drama um eine Alzheimer-Kranke.

Julianne Moore gehört zweifelsohne zu den größten Schauspielerinnen unserer Zeit. Die sich stets unter die Haut des Zuschauers spielende Charakterdarstellerin wurde schon vielfach ausgezeichnet: Sie erhielt erst im vergangenen Jahr bei den Internationalen Festspielen von Cannes den Preis als beste Darstellerin in David Cronenbergs Hollywooddrama “Maps to the Stars”. Nun endlich – nach insgesamt fünf Nominierungen – gab es den Oscar für ihre äußerst subtile Darstellung der 50-jährigen Linguistikprofessorin Dr. Alice Howland, die an Alzheimer erkrankt. Das Regie-Duo (und Ehepaar) Wash Westmoreland und Richard Glatzer erzählt das tiefschürfende Drama – nach der Buchvorlage der Neuro-Wissenschaftlerin Lisa Genova – aus der Perspektive von Alice.

Sie begeistern dabei vor allem durch ihre einfühlsame Perspektive: Glatzer leidet selbst unter ALS, einer Krankheit, die mit einem ähnlich tragischen – wenngleich auch körperlichen und nicht geistigen Kontrollverlust – einhergeht. Und auch die unglaublich wandelbare Moore als Hauptdarstellerin trägt dazu bei, dem Zuschauer einen nie zuvor dagewesenen Einblick in die Psyche eines Alzheimer-Patienten geben zu können.

Denn die Krankheit reißt Alice mitten aus ihrem Leben. Bislang hat die Professorin außerordentlich viel Glück gehabt: Ihren 50. Geburtstag verbringt sie gemeinsam mit dem Biologen John (Alec Baldwin), mit dem sie glücklich verheiratet ist und ihren drei Kindern Tom (Hunter Parrish), Anna (Kate Bosworth) und Lydia (Kristen Stewart). Doch wenig später treten bei Alice die ersten Gedächtnislücken auf, bei einem Vortrag hat sie plötzlich einen Aussetzer, beim Joggen fährt ihr der Schreck durch die Glieder, weil sie sich auf einmal nicht mehr an den Nachhauseweg erinnern kann. Ein Arzt eröffnet ihr kurz darauf die bittere Wahrheit: Alice hat frühmanifesten Alzheimer, der zu allem Übel auch noch vererblich ist.

Spätestens wenn der Arzt die bittere Diagnose stellt und die Kamera lange auf Moores Gesicht verweilt, geschieht mit dem Zuschauer dank der herausragenden Leistung dieser Ausnahmeschauspielerin etwas, was eigentlich unmöglich scheint: Er wird wahrlich in die Lage versetzt, sich fortan in diese Frau einzufühlen, die allmählich ihr Gedächtnis und die Kontrolle über ihr Leben verliert. Ihre Kinder reagieren unterschiedlich. Während Tom und Anna sich selbst testen lassen, will ihre jüngste Tochter Lydia, deren bisher recht erfolglose Schauspielkarriere die Beziehung zu ihrer New Yorker Upperclass-Mutter getrübt hat, es nicht wissen.

Ihre zu Herzen gehende Wiederannäherung an die Mutter und deren weiterer Krankheitsverlauf prägen fortan den Fortgang des äußerst subtilen, wenngleich recht konventionell ablaufenden Dramas, das ohne Taschentuch nicht durchzustehen ist. Auch Kristen Stewart, die bereits in dem Drama “Die Wolken von Sils Maria” zu beeindrucken wusste, liefert hier eine höchst beachtliche Schauspielleistung ab, wenn sie sich äußerst feinfühlig ihrer Mutter in dieser schweren Zeit wieder annähert. Die anderen Familienmitglieder entfernen sich dagegen eher von dieser Frau, die zunehmend Worte, Erinnerungen und sogar das Wissen darüber, wer sie sind, langsam verliert.

Unter vielen schauspielerisch umwerfenden Szenen sticht dabei eine besonders hervor, in der die bereits arg verwirrte Alice auf ein wenige Monate zuvor aufgenommenes Video ihrer selbst stößt. Dass sie vorsorglich eine Anleitung zum Selbstmord durch Schlaftabletten aufgenommen hat, veranschaulicht ergreifend ihren “Verfall”, durch den sie mitnichten mehr “Still Alice” zu sein scheint. Nur die feinfühlige Lydia, die bis zuletzt mit den Augen der Liebe auf ihre Mutter schaut, scheint sie als Person noch zu erkennen und dem völligen Vergessen für immer entreißen zu können.

Stimme / März 2015