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Grausamer Gefühlswalzer

Der Film “Warten auf Bojangles” porträtiert einen Jungen, dessen Eltern nicht erwachsen werden wollen

“Ist die Realität banal und traurig, erfinden Sie mir eine schöne Geschichte”, sagt Camille (Virginie Efira, “Bis an die Grenze“) zu ihrem neunjährigen Sohn, den die bipolare Frau stets siezt – und über alles liebt. Wem dieser zentrale Satz des Dramas “Warten auf Mr. Bojangles” von Regis Roinsard nicht gefällt, der sollte lieber die Finger von diesem Film über eine Amour Fou mit desillusionierendem Ausgang lassen. Alle anderen erwartet über weite Strecken ein aus der Zeit gefallenes, rasantes, von Kameramann Guillaume Schiffman großartig fotografiertes Drama über die Kraft der Fantasie und der Liebe, das ein wenig an Jean-Jacques Beineix’ “Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen” erinnert. Auch Jeunets “Die fabelhafte Welt der Amelie” kommt einem zuweilen in den Sinn, wobei Reinhards Drama wesentlich mehr Tiefgang hat. Mit seinem dritten Spielfilm hat er gemeinsam mit Romain Compingt den gleichnamigen Bestseller von Oliver Bordeaux recht frei adaptiert. 

Der visuell beeindruckende, filmische Rausch beginnt an der Côte d’Azur: Die Sonne lacht, das Meer glitzert – ein herrlicher Filmanfang für all jene, die das Kino auch für die Möglichkeit der Flucht aus der tristen Realität lieben. Einer Texttafel entnehmen wir, dass wir uns im Jahr 1958 befinden, ein nicht mehr ganz junger Mann, ganz offensichtlich ein Lügenbaron vor dem Herrn, schwindelt sich durch eine Party der Reichen und Erfolgreichen. Mal gibt George (Romain Duris) sich als Abkömmling des Grafen Dracula aus, mal behauptet er Harpunen zur Fliegenjagd zu fabrizieren. Doch plötzlich erspäht der Filou die wunderschöne Camille, die exaltiert zwischen all den bornierten Spießern tanzt – und es ist um ihn geschehen. Die eindringliche Warnung eines älteren Herrn, er würde sich die Finger an dieser Frau verbrennen, schlägt der lichterloh Entflammte leichthin in den Wind.

Bereits nach dem ersten Kennenlernen, bei dem sie einander mit Fantasiegeschichten überbieten, springen Georges und Camille ins Meer, da ist der wortgewandte Autoverkäufer als Scharlatan enttarnt. Sie fliehen in seinem Cabrio die kurvige Küstenstraße entlang, bauen einen Unfall vor einer Kapelle – und beschließen spontan dort symbolisch zu heiraten. Anschließend lieben sie sich gleich vor Ort auf dem Altar. Als Georges am nächsten Morgen erwacht, ist Camille verschwunden, aber er setzt alles daran, sie wiederzufinden. Doch auch die Angebetete selbst beschwört ihn, von ihr zu lassen, erliegt aber letztlich seinem Charme und seinem unbedingten Willen sie mit all ihrer Verrücktheit zu lieben. Neun Monate später kommt bereits ihr Kind zur Welt.

Nach einem Zeitsprung erleben wir die Welt nun hauptsächlich durch die Augen ihres mittlerweile neun Jahre alten Sohnes Gary. Solan Malchado-Graner verkörpert diesen Jungen, dessen Eltern sich weigern, erwachsen zu werden und ihn auf ihre atemlose Achterbahnfahrt der Gefühle mitnehmen, derart überzeugend, dass er beinahe seine ebenfalls großartig performenden Eltern in den Schatten stellt. Allerdings bekommt durch Garys Perspektive das kompromisslose Leben der Eltern leider eine zunehmend narzisstische Färbung. Statt sich weiterhin um das Seelenheil seiner Mutter zu sorgen und Georges für sein unerschütterliches Vertrauen in die Macht der Liebe zu bewundern, bekommen die Zuschauer*innen mehr und mehr Mitleid mit dem kleinen Jungen, der zwar im Ausleben seiner Phantasien nicht beschnitten wird, dafür aber kaum Sicherheit und Kontinuität erfährt. So beginnt man sich von diesem liebenswerten Paar, das alles daran setzt, sich aus den grauenhaften Fänden des Alltags zu befreien, zu distanzieren.

Jeden Abend feiern Garys Eltern mit ihrem nunmehr besten, väterlichen Freund aus der Eröffnungssequenz (Grégory Gadebois), den sie liebevoll einfach nur “Mistkerl” nennen, ausschweifende Partys, öffnen nie ihre Post und haben einen Reiher namens “Mademoiselle Redundanz” als Haustier. In der Schule glaubt Gary dies natürlich niemand, weshalb er von seinen Mitschülern gemobbt und verprügelt wird. Kurzerhand nimmt ihn die Mutter aus der Schule. Doch schon bald erträgt sie auch nicht mehr, dass Georges täglich so viel Lebenszeit mit seiner Arbeit als Gebrauchtwarenhändler verbringt. Zudem mehren sich ihre manischen Episoden, bei der sie zur Gefahr für sich selbst und andere wird. Als Zuschauer*in hält man stets den Atem an, wenn die von Efira verkörperte Camille, die zuletzt im Film des Kinoprovokateurs Paul Verhoevens “Benedetta” als unkeusche Nonne glänzte, von einer Sekunde zur nächsten in eine manische Phase kippt. Ebenso nuanciert zeichnet sich mehr und mehr das Entsetzen auf Georges hingebungsvollem Gesicht ab. Zeitgleich mit Camilles Geliebten begreift man allmählich, dass in ihrem Fall selbst das Reich der Fantasie auf Dauer keine Chance gegen die harte Realität hat. Camille verfällt zunehmend dem Wahnsinn.

Ein kurzer Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik verschlimmert ihren Gemütszustand noch, deshalb befreien Georges und Gary sie in einer Nacht- und Nebelaktion. Zum Glück hat der wohlhabende “Mistkerl” ein traumhaftes Schloß in Spanien für sie organisiert – das Produktionsdesign dieses Films ist wahrlich atemberaubend. Doch auch das neue Zuhause, das neben all seiner Schönheit ganz metaphorisch auch über finstere Verliese verfügt und somit zum weiteren Protagonisten des Films wird, vermag Camilles Absturz in den Wahnsinn nicht zu verhindern.

Ohne zu viel verraten zu wollen, hält sich am Ende des Films – auch für Zuschauer*innen mit großem Verständnis für die von unfassbarem Leid überschattete Amour Fou – das Mitleid für das Schicksal der Eltern und insbesondere von Georges in Grenzen. Dem armen Jungen bleibt letztlich nur übrig es wie der titelgebende “Mr. Bojangles” aus dem berühmten Song – im Film in der Interpretation des neuseeländischen Sängers Marlon William – zu machen. Als die Geschichte seiner Eltern vorbei ist, bleibt ihm nur übrig den Gefühlswalzer, den seine Mutter so sehr liebte, einfach tapfer weiter zu tanzen, so wie der Obdachlose in dem Lied. Was für ein frustrierendes Ende eines im Kern so berührenden Films.

“Warten auf Bojangles” in nd / Aug. 2022

Foto (c) Studiocanal GmbH Filmverleih