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Foto (c) 2017 Constantin Film Verleih GmbH

Voll auf die Zwölf!

In dem Mumblecore-Action Film „Tiger Girl“ provozieren nicht nur die starken Frauenfiguren.

In einer der mitreißendsten Szenen des an kompromisslosen Einfällen reichen Martial-Arthouse-Berlin-Dramas „Tiger Girl“ mischen die titelgebende Anarchobraut und ihre neue Freundin „Vanilla, the Killer“ eine Kunstausstellung auf: Sie fassen alle Exponate an und setzen sich sogar einfach die dort ausgestellten, mit Glitzersteinen besetzten Masken auf. Doch sie haben die Rechnung ohne die zierliche PR-Tussi gemacht, die offensichtlich eine viel versiertere Kampfsportlerin als die beiden ist! Die Frauenfiguren, die der äußerst vielversprechende, junge deutsche Regisseur Jakob Lass auf die Leinwand bannt, wirken höllisch erlösend in einer weltweiten Kinotradition, in der Frauen teilweise immer noch viel zu eindimensional dargestellt werden – insofern sie überhaupt in den Genuss einer Hauptrolle kommen.

Schon Lara, die Hauptperson aus Jacob Lass‘ großartigem Studentenfilm „Love Steaks“, war taff, ungestüm und liebenswert zugleich. Im Gegenzug dürfen die tollen Typen in Lass‘ Filmen auch mal weich und unsicher sein. Was für eine Befreiung!

Zu Beginn hat die schüchterne Maggie (Maria Dragus) die Aufnahmeprüfung zur Polizeischule versemmelt. Kurz darauf schnappt ihr eine Frau den Parkplatz weg. Da taucht plötzlich Tiger Girl auf, eine Frau wie eine weibliche Vision aus „Fight Club“, mit ansteckender Energie von Ella Rumpf verkörpert. Kurzerhand tritt sie den Außenspiegel vom Auto der Parkplatzräuberin ab. Im Supermarkt beobachtet Maggie dann fasziniert Tiger Girl beim Klauen, nur um wenig später deren Diebesgut in ihrer Tasche zu finden. Nachdem die moderne Pippi Langstrumpf Maggie dann noch aus den Fängen eines zudringlichen Bekannten und vor drei Typen in der U-Bahn gerettet hat, steht dem Beginn einer ungewöhnlichen Freundschaft nichts mehr im Wege.

Tigers Schlüsselbotschaft – „Höflichkeit ist eigentlich auch nur so ’ne Art Gewalt. Gegen Dich!“ – bringt Maggie, die nun Vanilla getauft wird, gewaltig ins Grübeln – und mit ihr bestimmt große Teile des weiblichen Kinopublikums. Während das lebensfrohe Tiger Girl in einem klapprigen Wohnmobil haust und ab und an ihre Junkie-Freunde auf einem Dachboden besucht, überbrückt Vanilla die Zeit bis zur nächsten Aufnahmeprüfung mit einer Security-Ausbildung bei Herrn Feldschau – einem Laiendarsteller, der die Rolle, die er auch im wirklichen Leben spielt, so glaubwürdig rüberbringt, wie es kein Schauspieler könnte. Damit bereitet Regisseur Lass, der sich der Improvisation verschrieben hat, den Boden für ein paar befreiende Lacher, die aus dem tiefsten Urgrund des autoritätsgepeinigten Deutschen kommen.

Doch weil „der Deutsche“ bisweilen nicht nur recht autoritätshörig, sondern auch uniformgläubig ist, besorgt Vanilla für ihre Freundin auch eine Security-Uniform, mit der sie dann aus simpler Lust an weiblicher Selbstermächtigung Parkbesuchern die Rucksäcke oder Fahrräder stehlen oder in einem Kaufhaus junge Männer schon mal nötigen, sich komplett auszuziehen.

Wie auch schon bei „Love Steaks“ zieht Timon Schaeppi den Zuschauer mit seiner unerhört innovativen Kameraarbeit mitten in das Geschehen hinein, die dröhnende Musik von Golo Schultz und der Band Grossstadtgeflüster vermag das mächtige Hochgefühl der beiden Frauen noch zu unterstreichen.

Doch irgendwann wird aus Spaß Ernst, und Vanilla, die ihm Gegensatz zu Tiger Girl keinen eigenen Moralkodex hat, beginnt über die Strenge zu schlagen. So haut sie berauscht von ihrem neuen Ich schon mal einer Passantin völlig grundlos ins Gesicht.

Dies ist spätestens der Punkt, an dem der Zuschauer anfängt, über die Mechanismen der Entfesselung von Gewalt im Allgemeinen und der weiblichen Selbstermächtigung im Besonderen nachzusinnen. Wie genial, dass Lass in diesem Zusammenhang die Background-Geschichte der beiden Frauen außer Acht lässt. So kann man sich über diese faszinierend-authentischen Figuren die Köpfe heiß reden, ohne die ewige weibliche Opfergeschichte berücksichtigen zu müssen, wie beispielsweise bei der von Uma Thurman gespielten Braut in „Kill Bill“.

Recht bald fragt man sich, warum dieser diskursanregende Film bloß in der Panorama-Sektion der diesjährigen Berlinale lief, denn genau solche Filme gehören in einen lebendigen Wettbewerb. Wer offen für wild-provokantes, aber dennoch durchdachtes Improvisationskino ist, der sollte „Tiger Girl“ also keinesfalls verpassen.

Stimme / März 2017

 

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