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Plädoyer für mehr Menschlichkeit

Der Salvadorianer Javier Zamora blickt in „Solito“ zurück auf seine eigene Geschichte

„Remigration“ würde 2023 als rechter Kampfbegriff und beschönigende Tarnvokabel zum Unwort des Jahres gekürt. Dennoch verschärft sich die Asylpolitik der EU und der USA ständig.
Vor diesem Hintergrund berühren die aus der Ich-Perspektive erzählten Memoiren des Lyrikers Javier Zamoras noch einmal mehr: Im zarten Alter von neun Jahren machte dieser sich aus der salvadorianischen Kleinstadt La Herradura auf eine lebensgefährliche Reise zu seinen Eltern nach Kalifornien.
Als illegale Einwanderer, die in den 80ern vor dem von den USA finanzierten Bürgerkrieg und den rechten Todesschwadronen geflohen sind, konnten Zamoras Eltern ihren Sohn nicht auf offiziellem Weg nachholen. Also beauftragten sie für viel Geld einen „Kojoten“ namens Don Dago, der bereits Javiers Mutter nach „Gringoldina“ geschleust hatte. Doch im Gegensatz zu seiner Mutter, die innerhalb von zwei Wochen die USA erreichte, brauchte Javier mit seiner Schleppertruppe zweieinhalb Monate. Statt wie sie die Grenze bei Tijuana zu passieren, musste er die Grenze in der Sonora-Wüste in Arizona drei Mal zu Fuß überqueren. Dabei war das Kind, das sich noch nicht einmal selbst die Schuhe binden konnte, „solito“ – also allein auf sich gestellt.
Erst 22 Jahre später fühlt sich der Autor in der Lage, in seinem gleichnamigen Romandebüt, das rasch zum Bestseller avancierte, davon zu erzählen.
1999 war er aufgebrochen. Der pummelige Javier, der ein hervorragender Schüler ist, muss sich von seiner Großmutter und seiner Tante für ungewisse Zeit verabschieden. Seinen Freunden darf er nichts von seinen Fluchtplänen erzählen, da sie ihn verraten könnten. Der Großvater bringt seinen Enkel nach Guatemala, wo Don Dago eine Gruppe von Flüchtenden um sich versammelt.
„Don Dago soll meinen Vater spielen“, erzählt der Javier im Buch mit unverstellt-kindlichen Blick auf die Welt, “ aber ich habe noch nicht mit ihm gesprochen. Don Dago ist immer noch ein Fremder. Er kennt Mama, ich sehe ihn schon seit Jahren, aber ich fand ihn immer unnahbar. Er ignoriert mich. Sieht mir nicht in die Augen.“
Letztlich lässt Don Dago ihn tatsächlich im Stich, und es sind andere Flüchtlinge, die sich als Javiers Familie ausgeben – und sich auch so verhalten. Da ist Patricia und ihre Tochter Carla, sowie Chino, der ihm bereits auf der nächsten Etappe, einer lebensgefährlichen Ozeanüberquerung, Schutz und Zuversicht schenkt. Später wird er ihn über Stacheldrahtzäune hieven und bei einer äußerst riskanten Wanderung durch die Wüste sogar auf dem Rücken tragen. Besonders diesen Immigranten, „die ihr Leben riskiert haben für einen neun Jahre alten Jungen, den sie nicht kannten“, ist sein Migrations-Epos gewidmet.
Ihre Menschlichkeit, gepaart mit dem magischen Blick eines Kindes, das trotz aller Widrigkeiten niemals die Hoffnung verliert, seine Eltern wiederzusehen, ziehen den Leser in seinen Bann.
Die kunstvolle Art mit der der vielfach ausgezeichnete Lyriker ZamoraWörter seiner Muttersprache in den Text eingebunden hat, lassen den Jungen dem Leser noch mehr ans Herz wachsen. Wer es genau wissen will, kann die spanischen Ausdrücke in einem Glossar im Anhang nachschlagen, man versteht die Geschichte aber auch so.
Nach dem Höllentrip in dem kleinen Boot, folgen Fahrten in Bussen, die man nur mit  Schmiergeldzahlungen fortsetzen kann, sowie schier endlose Aufenthalte in miesen Behausungen und tagelange Märsche mit wenig Nahrung und Wasser durch die Wüste. Dabei habe die Flüchtlinge stets panische Angst vor der Grenzpolizei, „die Helikopter hat. Sie haben Lastwagen. Sie haben Ferngläser, mit denen man im Dunkeln sehen kann. Ich möchte unseren eigenen Hubschrauber, um gegen La Migra zu kämpfen. Um diese bösen Gringos zu erschießen, die uns Angst machen.“
Beim ersten Mal greift „La Migra“ die Truppe auf und verfrachtet sie zurück nach Mexiko. Längst haben alle gelernt, den mexikanischen Akzent zu kopieren und sich gegenüber der Polizei als Einheimische auszugeben.
In der Wüste verletzen sich die Migranten an den Stacheln der Kakteen, werden von Schäferhunden gehetzt, einen müssen sie mit verstauchtem Fuß in der Wüste zurücklassen, auch andere verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Das erinnert an den 2007 auf Deutsch erschienenen Roman „Der Todesmarsch“ von Luis Alberto Urrea in dem 26 Mexikaner versuchen, ebenfalls durch die Wüste von Arizona die USA zu erreichen – doch nur zwölf von ihnen überleben diese Tortur.
Zamoras Erfahrungsbericht ist ein berührendes Plädoyer für mehr Menschlichkeit und eine Erinnerung daran, wie sehr Migranten unsere Gesellschaft bereichern. Ein wichtiges Buch in Zeiten flüchtlingsfeindlicher Diskurse und zunehmender Abschottung.

Foto (c) Gerardo del Valle

In: Die Rheinpfalz von August 2024