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Foto (c) 2018 Rapid Eye Movie

Die ganze Welt der Musik

„Haben Sie eine Botschaft an Ihre Fans?“ wird der exzentrische Musiker und Komponist Chilly Gonzales zu Beginn des Dokumentarfilms „Shut Up and Play the Piano“ gefragt. Seine Fans sollen ihn nicht nur lieben, sondern auch hassen, antwortet dieser, denn „ich bin total verlogen, ich nehme das alles gar nicht ernst.“ Nun, was wirklich gelogen und was wahr ist im Leben dieses herausragenden Konzeptkünstlers und Entertainers, wird man auch nach dem äußerst unterhaltsamen, filmischen Porträt von Philipp Jedicke nicht besser durchschauen. Nur eines wird man begriffen haben: Jason Becks alias Chilly Gonzales‘ unbedingte Liebe zur Musik – und zum Leben. Diese überbordende Energie überträgt sich Dank der verspielten Machart der Doku des Regiedebütanten Jedicke auch auf den Zuschauer.

Aufgewachsen ist der 1972 geborene Jason Beck alias Chilly Gonzales in Montreal als Kind eines reichen Bauunternehmers. Jasons Großvater führte ihn bereits mit drei Jahren ans Klavierspiel heran. Mit seinem Bruder Christophe, heutzutage ein gefragter Filmkomponist, im Film aber leider nur in Fotos präsent, machte er schon in jungen Jahren Musik. Im Alter von ungefähr zwölf Jahren gründete Gonzales seine erste Postpunkband „Joke“, seine Energie und sein sympathischer Größenwahn werden in Archivaufnahmen bereits deutlich.

Zwei Dinge halten das Porträt über den Ausnahmemusiker lose zusammen: Chillys ungewöhnliches Klavierspiel und ein Interview mit der Schriftstellerin Sibylle Berg, das nebenbei geschickt die von Gonzales inbrünstig gehasste Interviewsituation konterkariert. Gonzales würde am liebsten Schauspieler an seiner Stelle zu Interviews schicken. Daraus entwickelt sich ein spaßiger, strukturgebender Subplot des Porträts, das aus Gesprächen mit Weggefährten, Schnipseln aus Gonzales‘ persönlichem Video-Archiv, fiktionalisierten Episoden sowie Live-Mitschnitten seiner Konzerte besteht: ein Casting von Gonzales-Doubles.

Mit Peaches, die ebenso wie die langjährige Wegbegleiterin Leslie Feist in der Doku häufig zu Wort kommt, und Mocky schloss Chilly sich später zur Band „The Shit“ zusammen. Doch der „geile Scheiß“ dieser Anti-Establishment-Band, die exaltierte Performance-Konzerte zwischen Punk, Hip-Hop und Electro gab, passte viel besser ins wilde Berlin der Jahrtausendwende als nach Montreal. Also zog man gemeinsam in die wiedervereinigte Hauptstadt.

Peaches und Gonzales bezeichnen sich rückblickend als gegenseitige Mentoren, die einander anstachelten, was unter anderem in Gonzales‘ Auftritt 2003 in den Räumen der Bundespressekonferenz mündete, wo er sich lautstark und legendär für das Amt des „König des Untergrunds“ von Berlin bewarb.

2004 kam dann der radikale Bruch – das sympathische Großmaul hielt für kurze Zeit die Klappe, zog nach Paris und spielte wieder mehr Klavier. Sein in dieser Zeit entstandenes Album „Solo Piano“ – auf dem der eigenwillige Künstler auch seine in Klassik und Jazz geschulte Seite zu Gehör brachte – machte ihn schlagartig über Hipsterkreise hinaus bekannt, das Album löste eine regelrechte Solo-Pianowelle aus. Künstler wie Nils Frahm folgten ihm auf diesem Pfad.

Längst ist der reflektierte Egozentriker Gonzales auch in großen Konzertsälen zu Hause, wo er in Bademantel und Filzpantoffeln die braven Kollegen und Kolleginnen im Symphonieorchester nicht nur durch sein Outfit zum Kichern bringt.

„Shut Up and Play the Piano“ zeigt einen herausragenden Entertainer und Inszenator, der das Publikum aus der Realität der Daueroptimierung in die Welt der Musik entführt. Wo richtig oder falsch oft nur zwei Halbtöne auseinanderliegen. Aber wie man im Jazz zu sagen pflegt: Machst du einen Fehler, spiele ihn zweimal, dann ist er gewollt. In diesem Film ist am Ende alles gewollt.

Mittelbayerische / Sept. 2018