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Foto: (c) 2015 Sony Pictures

Die Kraft der Musik

Mit „Ricki – Wie Familie so ist“ komponierte Jonathan Demme eine Art tragisch-komisches Rockmärchen, das Klischees auf ganz eigene Art umschifft.

Jonathan Demme hat dem Publikum schon atemberaubende Musikfilme beschert. Man denke nur an seinen legendären Konzertfilm „Stop Making Sense“ (1984) über die Talking Heads oder seine leidenschaftliche Musikdoku-Trilogie über Neil Young (2006, 2009, 2011). Mit „Ricki – wie Familie so ist“ bleibt der musikbegeisterte Regisseur im Grunde seiner Leidenschaft treu. Dafür vernachlässigt der 71-Jährige für manchen Geschmack aber sicher zu sehr die psychologische Seite einer solchen Tragikomödie. Doch nicht zuletzt aufgrund des außergewöhnlichen Teams an seiner Seite, von Drehbuchautorin Diablo Cody („Juno“) über Kameramann Declann Quinn bis hin zu Schauspielern Meryl Streep und Kevin Kline, gelingt ihm dennoch ein Film, der berührt und sein Publikum mitzureißen versteht.

Meryl Streep gibt die titelgebende Ricki Rendazzo, die in ihrem zurückgelassenen Leben als dreifache Mutter eigentlich Linda heißt. Doch Abend für Abend spielt sie in einer Bar in Los Angeles vor einem wie sie in die Jahre gekommenen Stammpublikum ihrem Traum von einer Rock ’n Roll-Karriere hinterher. Zu den altgedienten Musikern ihrer Coverband „The Flash“ zählt übrigens auch Neil-Young-Bassist Rick Rosas, der kurz nach den Dreharbeiten verstarb. Mit Bandkollege Greg (80er-Jahre-Star Rick Springfield), der in die komplizierte Rockröhre verliebt ist, liefert sich Ricki auf der Bühne zudem feine musikalische Duelle.

Meryl Streep bewies bereits in „Mamma Mia“ (2008) und „Into the Woods“ (2014), dass sie mehr als passabel singen kann. Für Demmes Film lernte sie sogar das E-Gitarre-Spielen. Es ist eine Freude, ihr bei ihrer Performance zuzuschauen. Tagsüber sieht das Leben der ein wenig vulgären Musikerin allerdings nicht so glamourös aus. Da arbeitet sie als Kassiererin in einem Bio-Supermarkt und muss ihre sperrige Persönlichkeit zugunsten übertriebener Kundenfreundlichkeit im Pausenraum abgeben. Dort erreicht sie dann auch der Anruf ihres Ex-Gatten Pete (Kevin Kline), der sie bittet nach Indianapolis zu kommen: Ihre gemeinsame Tochter Julie (Mamie Gummer) wurde von ihrem Ehemann Hals über Kopf verlassen, weshalb sie versuchte, sich umzubringen.

Die bankrotte Rabenmutter fliegt sofort in die Provinz und nistet sich – in Abwesenheit von Petes neuer Vorzeige-Ehefrau – auf dem Anwesen ihres reichen Ex-Gatten ein. Dort muss sie sich von ihrer erschreckend heruntergekommenen Tochter erst einmal gehörig angiften lassen. Doch Ricki gelingt es, ihre Tochter allmählich von ihrem zerstörerischen Selbstmitleids-Trip herunterzubringen. Dabei umschiffen Autor Cody und Regisseur Demme geschickt alle rührseligen Klischees. Streep und Mamie Gummer, die auch im wahren Leben ihre Tochter ist, geben diesen Szenen zudem eine packende Authentizität, wie man sie sonst selten zu sehen bekommt.

Doch auch ihre beiden Söhne bereiten Ricki Kummer: Josh (Sebastian Stan) will seine peinliche Mutter nicht bei seiner anstehenden Hochzeit dabei haben, und Adam (Nick Westrate) ist stinksauer auf Ricki, die als überzeugte Republikanerin – entgegen aller freizügigen Rockstar-Klischees – seine Homosexualtiät nie akzeptiert hat. Bei einem ersten Familientreffen im Restaurant liefert sich die dysfunktionale Familie einen Schlagabtausch, der für Zuschauer mit ähnlichen Erfahrungen durchaus kathartisch wirken kann. Solche köstlichen kleinen Szenen durchziehen den ganzen Film.

Dafür zeigt Demme jedoch recht wenig Interesse an der tieferen Entwicklung der Figuren und deren Konflikten. Im Grunde ist sein Film wie die Rabenmutter Ricki: Er vernachlässigt die Familie schmählich zugunsten der Musik. Doch wer sich ihrer heilspendenden Kraft überlassen mag, anstatt zum nächstbesten Familientherapeuten zu rennen, wird von diesem Rockmärchen sicher nicht enttäuscht.

Stimme / Sept 2015