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Wiedergeburt eines Schwulen

Anne Fontaines collagenartiges Porträt einer schmerzhaften Identitätssuche geht unter die Haut.

“Papa, was bedeutet ‘Schwuchtel’?”, fragt der titelgebende Teenager “Marvin” in Anne Fontaines queerer Coming-of-Age-Geschichte. “Du weißt es. Es ist etwas Abnormales, eine Art Geisteskrankheit”, antwortet der Vater. Der verschlossene Junge schließt daraus, er könne nicht schwul sein – denn schließlich ist er ja nicht verrückt. Der Film, der den biografisch inspirierten Roman “Das Ende von Eddy” von Édourd Louis frei interpretiert, spielt nicht etwa vor 100 Jahren, sondern beginnt um das Jahr 2000 in einem Dorf in den Vogesen. Premiere feierte das Drama bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig, wo es mit dem Queer Lion ausgezeichnet wurde. In dem geschickt zwischen den Zeitebenen hin und her tanzenden Film verkörpert Jules Porier herausragend den jungen Marvin Bijoux, der im provinziellen Arbeitermilieu aufwächst. Finnegan Oldfield spielt gleichfalls überzeugend den erwachsenen Marvin, der sich nach seinem Aufbruch in die Pariser Bohème neu erfinden muss.

Der junge, sensible Marvin hat “einen schlechten Start” ins Leben, wie es sein späterer Mentor formulieren wird: Seine Mitschüler triezen den ätherisch wirkenden Jungen, wo sie nur können, seine in sehr ärmlichen Verhältnissen lebende, bildungsschwache Familie versteht ihn nicht und schämt sich sogar für ihn. Zu Hause läuft permanent der Fernseher, sein arbeitsloser Vater Dany (großartig: Grégory Gadebois) und seine resignierte Mutter Odile (Catherine Salée) sind grob zueinander – dennoch versteht Regisseurin Fontaine die Eltern so in Szene zu setzen, dass man sie als Zuschauer als Opfer ihrer Lebensumstände begreift und ein Stück weit mit ihnen fühlt. Dies sind Menschen, die aus Verzweiflung und Verbitterung die rechtsextreme Partei Front National wählen.

Homophobie ist allgegenwärtig in dem Milieu, aus dem sie kommen. An der Bushaltestelle prangt ein Schild mit der Aufschrift “Tod den Schwuchteln”. Der pubertierende Marvin, der sich eher zu Männern hingezogen fühlt, hat nicht die geringste Chance, zu sich selbst zu stehen. Doch zum Glück wird der scheue Junge in seinem Leben noch einige wohlmeinende Mentoren treffen: Die Erste, die es gut mit ihm meint, ist die neue Schulrektorin Madeleine Clément (Catherine Mouchet), die ihn mit dem Theaterspielen bekannt macht, einer Kunstform, in der das Anderssein nicht nur erlaubt, sondern höchst wünschenswert ist.

In seinem späteren Leben, das parallel mit kunstvollen Überblendungen in Bild und Ton erzählt wird, trifft er in der Pariser Schauspielschule auf den schwulen Lehrer Abel (Vincent Macaigne), der in seiner Jugend ein ähnliches Martyrium wie Marvin erlebt hat. Abel ermutigt Marvin, seine Lebensgeschichte zu verarbeiten und auf die Bühne zu bringen.

Nicht begeistert ist Abel dagegen von Marvins Liaison mit dem Porsche fahrenden Sugar-Daddy Roland. Doch Roland verdankt Marvin letztlich seine Bekanntschaft mit Isabelle Huppert, die sich mit köstlicher Ironie selbst spielt. Am Ende wird sie in Marvins gesellschaftskritischem Selbstwerdungsstück, das aus schmerzhaften Original-Dialogen und Situationen aus seiner Kindheit besteht, die Rolle der Mutter übernehmen.

Gewiss hat dieses Drama nicht die Wucht und die Klasse eines Films wie der Oscar-Gewinner “Moonlight”. Gelegentlich nervt er durch seine implizite Dauerlobhudelei der Verwandlungskraft des Theaters, diesem Schutzraum, in dem schmerzhafte Wahrheiten ausgesprochen werden dürfen. Wenn jedoch der von Kind an zum Schweigen verdammte Marvin endlich seinem Mentor weinend gesteht, dass er schwul ist, oder sein Vater mit dem tief vergrabenen, zarten Herzen mit einer unbeholfenen Geste zeigt, dass er Marvins Wiedergeburt und sein Schwulsein akzeptiert hat, so sind dies Bilder, die noch lange im Zuschauer nachhallen.

Stimme / Juli 2018