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Foto: © Senator Film Verleih

Lebendig begraben

Eine wahre, unglaubliche Überlebensgeschichte aus der Zeit des Nationalsozialismus erzählt der berührende Film „No Place On Earth“ der Emmy-Preisträgerin Janet Tobias („Life 360“). Er handelt von fünf jüdischen Familien, die sich während der Nazi-Diktatur nahezu anderthalb Jahre in den Tiefen ukrainischer Höhlen versteckt hielten.

Der halbdokumentarische Film nimmt seinen Anfang 1993, als der Höhlenforscher Christopher Nicola in die Ukraine reist und in der sogenannten „Priestergrotte“, die Teil eines weit verzweigten Höhlensystem ist, auf Frauen- und Kinderschuhe, Geschirr, Medizinfläschchen und andere Spuren von Menschen stößt. Dorfbewohner äußern die Vermutung, Juden könnten die Bewohner der Höhle gewesen sein. So deckt Nicola schließlich die Geschichte der mutigen Jüdin Esther Stermer auf, die es 1939 mit ihrer Familie nicht mehr rechtzeitig schaffte, ins Ausland zu fliehen. Im Herbst 1942, nachdem das Überleben für Juden in dem kleinen Dörfchen Korolowka unmöglich geworden war, beschloss die umsichtige Mutter und Großmutter, in den nahegelegenen Gipskarsthöhlen „unterzutauchen“.

In einem ausgewogenen Wechsel von Spielfilm-Sequenzen, die in einer gigantischen ungarischen Tropfsteinhöhle gedreht wurden, und intensiven Interviews mit hochsympathischen und alles andere als verbitterten Überlebenden, empfindet die Regisseurin anhand von Esthers Memoiren die 511 Tage in der absoluten Dunkelheit nach: Wie kleine Mädchen in der Höhle versuchten, sich ihr neues finsteres Zuhause als ein Schloss vorzustellen oder wie die ungeübten Kletterer durch die zum Teil engen und niedrigen Gänge kriechen mussten.

Vier Kameramänner, darunter „City of God“-Kameramann César Charlone und Eduard Grau, der auch für die Bilder des klaustrophobischen Thrillers „Buried – Lebend begraben“ verantwortlich war, gelingt es meisterhaft, mit Licht und Schatten arbeitend diesen Survivalkampf der Familien einzufangen. In Bildern, die den Atem stocken lassen, wird von der Schwierigkeit der Essensbesorgung in der Nacht erzählt. Am gefährlichsten aber, so erfährt der gebannte Zuschauer, sei das unvermeidliche, aber sehr lärmintensive Holzhacken gewesen.

Als gegen Ende des Films die Überlebenden und einige ihrer Nachkommen „ihre“ Höhle noch einmal aufsuchen, erzählt einer der Enkel, dass das Leben in der Höhle Inhalt seiner ersten Gutenacht-Geschichte gewesen sei. Als Zeuge dieses beeindruckenden filmischen Zeitdokuments ist man erleichtert über die zahlreichen Familienfotos im Abspann, die die 125 Nachkommen der unfreiwilligen „Weltklasse-Caver“ zeigen.

Gabriele Summen

Radio Köln 5/2013