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Foto: (c) 2016 farbfilm

Jenseits der Schwarzwaldklinik

In Piotr J. Lewandowskis Familienmelodram „Jonathan“ werden große Themen unerschrocken behandelt.

Ein 23-Jähriger, der sich für den Familienbauernhof und seinen krebskranken Vater tagein, tagaus aufgeopfert hat, springt mit der hübschen Pflegerin splitternackt durch Wald und Flur. Und sein von Hautkrebsflecken entstellter, schwuler Papa hat auf dem Krankenhausbett endlich Sex mit seiner großen Liebe, die er zeitlebens weitgehend verleugnet hat: Das visuell starke und atmosphärisch recht dichte Spielfilmdebüt „Jonathan“ des deutsch-polnischen Regisseurs Piotr J. Lewandowski ist zugleich ein Coming-of-Age- und ein Coming-out-Film.

Teenieschwarm Jannis Niewöhner („Saphirblau“) verkörpert recht glaubhaft den titelgebenden Jonathan, der sich mit seiner missmutigen Tante Martha (Barbara Auer) auf dem idyllisch gelegenen Bauernhof abrackert. Wegziehen kommt für den jungen Mann nicht in Frage, denn Jonathan muss seinen an schwerem Hautkrebs erkrankten Vater Burkhard (großartig: André Hennicke) pflegen, den die Tante geflissentlich ignoriert.

Das von Lewandowski selbst verfasste Skript, das bereits vor der Verfilmung den renommierten Emdener Drehbuchpreis erhielt, bei der diesjährigen Berlinale in der Sektion Panorama seine Weltpremiere feierte und dort die Publikumsherzen eroberte, beruht auf einer wahren Geschichte. Obwohl diese über lange Strecken vorhersehbar ist und teilweise durch hölzerne Dialoge und unglaubwürdige Handlungen der Hauptcharaktere Gefahr läuft, in Seifenoper-Gefilde abzudriften, bekommt der Film doch immer wieder die Kurve. Dies liegt hauptsächlich an Kameramann Jeremy Rouse („The Turning“), dem es durch seine kraftvoll-poetische Bildgestaltung gelingt, eine Stimmung zu erzeugen, die letztlich den ganzen Film trägt.

Ein Geheimnis liegt darin wie ein bleischwerer Schatten auf den Seelen der Familienmitglieder: Den Tod des Vaters vor Augen, versucht Jonathan wieder und wieder mehr über seine unbekannte Mutter und ihren angeblichen Unfalltod zu erfahren, doch sowohl Martha, als auch sein Vater schweigen wie ein Grab. Leben und Leichtigkeit kommt in die dysfunktionale Familie durch die offenherzige Anka (Julia Koschitz), die fortan bei der Pflege des schwerkranken Patienten helfen soll.

Von Anfang an verdeutlicht sie dem gutaussehenden Jonathan, der für das Genre des Melodrams ein paar Mal zu häufig sein T-Shirt auszieht und seinen wohltrainierten Oberkörper vorführt, dass er aus dieser starren Konstellation ausbrechen und auch mal an sich denken muss. Auch dem mürrischen Todkranken gibt Anka Ratschläge wie: Er solle doch erst einmal das Leben zulassen, damit er sterben kann. Diese – sicher nicht einer gewissen Wahrheit entbehrenden – Kalendersprüche aus dem hübschen Mund der etwas zu engelsgleichen Pflegerin bringen den Film ebenfalls immer wieder etwas aus dem Lot. Doch als Ron (Thomas Sarbacher), die große Liebe Burkhards und Marthas Ex-Partner, auf dem Hof auftaucht, gewinnt der Film noch mehr an Tiefe und Überzeugungskraft.

Es ist sehr berührend mit anzusehen, wie Jonathans Vater unter der Anwesenheit seines alten Jugendfreundes noch einmal aufblüht, obwohl es gesundheitlich mit ihm steil bergab geht. Zwischentöne sowie Blicke und Gesten der beiden alten Männern untereinander ziehen den Zuschauer tief hinein in diese Geschichte aus dem idyllischen Schwarzwald. Einer Erzählung, die von Liebe, Lebenslügen, Versöhnung und Abschied, aber eben auch vom Erwachsenwerden eines sanften Rebellen handelt. Wenn kurz vor Ende dann die Hand des tödlich geschwächten Bauern flüchtig das abendliche Korn streift, als sein Geliebter und sein Sohn ihn gemeinsam ins Sterbebett tragen, rundet sich der Eindruck ab, soeben mutigem, poetischem Gefühlskino, wie man es in Deutschland selten zu sehen bekommt, beigewohnt zu haben.

Stimme / Okt. 2016