Foto: (c) Universum Film
Das Cabinet des Mathias Malzieu
1874. Es ist der kälteste Tag, den die Erde je erlebte. Ein Tag, an dem Tränen sofort zu Eis erstarren. In Edinburgh wird ein Kind mit gefrorenem Herzen geboren. Die findige Hebamme Madeleine setzt dem Jungen, der kurz nach der Niederkunft von seiner Mutter verlassen wird, anstelle seines Herzens eine Kuckucksuhr ein. Doch die Rettung hat – wie in jedem Märchen – ihren Preis: Fortan muss sich der kleine Jack an drei Regeln halten: Er darf niemals die Zeiger seines Herzens anfassen, er muss stets sein Temperament in Zaum halten und drittens: Er darf sich niemals in seinem Leben verlieben! Hereinspaziert in das magisch-düstere Animationsmusical „Jack und das Kuckucksuhrherz“ von Dionysos-Frontman Mathias Malzieu.
Zuerst schrieb der fantasievolle Kopf der französischen Band das Buch, auf dem der Film nun basiert, begleitend gab es dazu das sechste Studioalbum von Dionysos. Schon früh träumte Mathias Malzieu von einer Kinoverfilmung seines Herzensprojektes und gewann in Luc Besson und dessen Frau Virginie Besson-Silla, die die Produzentin des Films wurde, bald Verbündete. Multitalent Malzieu schrieb die Geschichte zum Drehbuch um, Regisseur Stéphane Berla wurde mit an Bord geholt, und nun, sechs überaus kreative Jahre später, ist Mathias Malzieus Traum auf der Leinwand Wirklichkeit geworden: ein ungewöhnlich, für manche Geschmäcker womöglich zu sprunghaft erzähltes 3D-Animationsmusical, das wie der persönliche Film anmutet, den man beim Hören eines inspirierenden Albums im Kopf hat.
Natürlich muss sich der junge Jack verlieben: Er verliert sein mechanisches Herz an die Sängerin Miss Acacia, die extrem kurzsichtig ist. Nach einem gemeinsamen Song beginnt sein empfindliches Herz tatsächlich zu qualmen – nur der mutige Einsatz seiner Ziehmutter Madeleine rettet ihn. Als Jack erwacht, ist seine Angebetete verschwunden. Es folgen einige Jahre auf einer herrlich düster gezeichneten Schule, von der er nach einer Prügelei mit einem Rivalen fliehen muss – seine Suche nach Miss Acacia kann endlich beginnen.
Er begibt sich auf den Weg nach Sevilla. Gemeinsam mit einem neuen Freund, der davon besessen ist, mit einer Apparatur bewegte Bilder zu erzeugen und ihm dringend dazu rät, sein Leben nicht mit dem Versuch zu verschwenden, nicht verletzt zu werden. Jacks neuer Wegbegleiter ist niemand Geringeres als Kinomagier und Filmpionier George Méliès – dem auch schon Martin Scorsese mit seinem Werk „Hugo Cabret“ – huldigte.
Auf der Reise darf sich die italienische Illustratorin Nicoletta Ceccoli vollends austoben, die detailverliebten Bilder kippen nun zum Teil atemberaubend vollends ins Surreale. Man stelle sich einen Jahrmarkt vor, der viktorianisch-expressionistisch, aber auch einen Hauch westernmäßig anmutet und der von so sonderbaren Gestalten bevölkert ist, dass er auch Tim Burtons Gehirn entsprungen sein könnte: Jack The Ripper, zweiköpfige Frauen und allerhand andere wunderliche Freaks kreuzen den Weg. An einem solchen Ort findet Jack endlich seine Miss Acacia wieder. Doch damit ist diese andersartige Geschichte, die poetischerweise das Ausleben der eigenen Andersartigkeit zum Mantra erhebt, noch lange nicht zu Ende, und das melancholisch-fragile Cabinet des Mathias Malzieu darf sein Publikum noch weiter überraschen.
mehrdrauf / Juli 2014