Foto: © Camino Film
Großstadtcowboy wider Willen
Edward Bergers Sozialdrama „Jack“, das bei der diesjährigen Berlinale seine Premiere feierte, ruht ganz auf den naturgemäß noch recht schmalen Schultern seines jungen Hauptdarstellers Ivo Pietzcker. Zum ersten Mal in seinem Leben stand der Elfjährige vor der Kamera. Eine große Herausforderung, die er bravourös gemeistert hat. Auch der zehnjährige Jack, den er im Film verkörpert, vermag eine enorme Verantwortung zu tragen: die für sich und seinen kleinen Halbbruder, da seine junge, alleinerziehende Mutter ihre Kinder zwar liebt, leider aber auch hoffnungslos unzuverlässig ist.
Von der ersten Minute an ist die häufig mobile Kamera von Jens Harant mit Jack auf einer Augenhöhe. Es gibt kaum eine Einstellung in dem Film, in dem er nicht zu sehen ist. Gemeinsam mit ihm betrachtet der Zuschauer ernst und ohne jemals zu jammern die zum Teil abgrundtief gleichgültige Welt der Erwachsenen. Schauplatz des Films ist Berlin. Aber die Autobahnraststätten, die Parkhäuser, die Einkaufspassagen, die öden, nächtlichen Straßen und die Clubs könnten in jeder größeren Stadt vorzufinden sein.
Zu Beginn des Films sieht man Jack, der in seiner Familie notgedrungen die Vaterrolle übernommen hat, wie er erschreckend routiniert das Frühstück für seinen kleinen Halbbruder Manuel (Georg Arms) zubereitet. Dann rennt der verschlossene kleine Kerl zur Schule. Seine verantwortungslose 26-jährige Mutter Sanna (Luise Heyer) ist ziemlich selten zu Hause – entweder arbeitet sie oder sie zieht mit ihren Freunden um die Häuser. Warum Sanna so ist, wie sie ist, wird von Berger nicht näher beleuchtet, sodass man sich voll auf die Sicht der alleingelassenen Kinder einlassen kann.
In seiner sozialkitschfreien Grundkonstellation erinnert der Film an Ursula Meiers ebenfalls tief beeindruckenden Film „Sister“, aber auch „Der Junge auf dem Fahrrad“ von den Dardenne-Brüdern oder „Nobody Knows“ von Hirokazu Kore-eda kommen einem in den Sinn. Alles Filme, die durch ihre Konzentration auf die alleingelassenen Kinder eine ungeheure Anteilnahme beim Zuschauer erzeugen.
So beobachtet man gebannt, wie Jack seinem Halbbruder auf seine liebevoll-geduldige Art das Schuhezubinden beibringt oder wie er verhindert, dass der Kleine im See ertrinkt. Doch als Manuel sich einmal im zu heißen Badewannenwasser verbrüht, greift das Jugendamt ein – Jack muss ins Heim.
Auch die nette Heimerzieherin Becki, die übrigens von Bergers Ehefrau und Co-Drehbuchautorin Nele Mueller-Stöfen gespielt wird, findet keinen Zugang zu dem viel zu früh erwachsen gewordenen Jack, der zudem noch von einem anderen Jungen Danilo drangsaliert wird. Jack beschließt zu fliehen. Doch als er zu Hause ankommt, fehlt von seiner Mutter jede Spur. Zusammen mit seinem Bruder begibt er sich auf eine dreitägige, in langen Plansequenzen eingefangene Odyssee durch eine Welt, die von mitleidlosen Erwachsenen bevölkert ist – auf der Suche nach ihrer Mutter, einem Schlafplatz, etwas zu essen.
Und hier gelingt Jungdarsteller Ivo Pietzcker etwas Außerordentliches: Selbst wenn wir ihn durch Clubs begleiten, die nach Fernsehart überzogen wirken, wo Techno-Drogenleichen dumpf vor sich hinstieren, verlieren wir nie den Glauben an der Authenzität seiner Geschichte. Denn die spiegelt sich jede Sekunde in seinem ausdrucksstarken Gesicht. Und wenn Jack am Ende des Films eine weisere Entscheidung für sein Leben trifft, als manch ein Cowboy in der Prärie, fühlt man sich endgültig wachgerüttelt. Man wird das Schicksal vernachlässigter Kinder künftig noch ernster nehmen und stärker über eine Gesellschaft nachsinnen, in der jeder sich selbst nur noch der Nächste ist.
Radio Berg / Okt. 2014