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Von der Straße in die Rap-Welt
In Indien gibt es eine aufblühende HipHop-Szene, zwei ihrer Helden heißen Naezy und Divine. Sie kommen aus ärmlichen Verhältnissen und rappen auf Hindi über die Probleme und Sorgen der Slumbewohner. Das Genre nennt sich Gully-Rap, was übersetzt „Straßenrap“ heißt, und hat eine der wenigen weiblichen Bollywood-Regisseurinnen, Zoya Akhtar („Man lebt nur einmal“), zu „Gully Boy“ inspiriert, einem subversiven Genremix aus Underdog-Rap-Drama und Bollywoodfilm.
Der titelgebende Junge von der Straße, der eigentlich Murad heißt und in den Slums von Mumbai wohnt, wird in dem Spielfilm von Bollywood-Superstar Ranveer Singh verkörpert, der seine Sache insgesamt gut macht, obwohl der 33-Jährige ein wenig zu alt und gelegentlich auch zu sanft für die Rolle des 22-jährigen, muslimischen College-Studenten und zornigen Rappers wirkt.
Eigentlich ist Murads Weg im indischen Kasten- und Klassensystem vorgezeichnet: Die Familie, die äußerst beengt in einer winzigen Hütte wohnt, finanziert ihm unter größten Mühen das College, damit er später einen Bürojob ergattern kann. Mehr ist nicht drin, bläut ihm sein schicksalsergebener Vater Shakir (Vijay Raaz) ein. Er selbst jobbt als ungelernter Chauffeur und hat zu allem Überfluss gerade noch eine zweite Ehefrau ins Haus gebracht, was zu zusätzlichen Spannungen führt.
Murad flüchtet sich aus seinem beengten Alltag, indem er wütende Raptexte verfasst, Marihuana raucht und sich heimlich mit der temperamentvollen Arzttochter Safeena (phänomenal: Alia Bhatt) trifft, die schlichtweg die interessanteste Frauenfigur ist, die je in einem Bollywood-Film aufgetreten ist.
Die Figur der progressiven Muslima, die einer höheren Kaste als Murat angehört, macht nicht nur auf die Probleme der jungen Frauen in der indischen Gesellschaft aufmerksam, sondern hat auch die Lacher und Actionszenen nahezu komplett auf ihrer Seite: Safeena, die ihren Eltern stets das gehorsame Mädchen vorspielen muss, kann in Wirklichkeit knallhart sein.
Als die angehende Ärztin mit einem anderen verheiratet werden soll, antwortet sie abschreckend auf die Frage, ob sie denn auch gut kochen könne mit „nein“ – aber sie könne ihrem Mann oder ihren Schwiegereltern später eine Leber transplantieren. Von Safeena hätte man gern noch mehr gesehen. Ihre große Liebe Murad begegnet nun zufällig dem bekannten Rapper MC Sher (stark in seinem Leinwanddebüt: Siddhant Chaturvedi), der den schüchternen Rap-Poeten ermuntert, sein Hobby zu professionalisieren. Gemeinsam drehen sie ein Musikvideo, das viral geht – während Murad nebenbei auch noch für seinen Vater als Fahrer steinreicher Leute einspringen muss, was ihn jedoch zu Songs inspiriert.
Der Soundtrack des Films ist insgesamt „fresh“, wie der HipHopper zu sagen pflegt. Naezy und Divine und viele ihrer indischen Rapkollegen, waren daran beteiligt, was entscheidend zur Authentizität der ansonsten recht vorhersehbaren Geschichte beiträgt, sowie den mit 153 Minuten überlangen Film wie im Flug vergehen lässt.
So wird die junge, US-amerikanische Produzentin Sky (Kalki Koechlin) auf Murat aufmerksam und will ihn groß rausbringen. Die Episode mit ihr verursacht ein wenig Bauchgrummeln, braucht ein indisches Rap-Talent wie „Gully Boy“, der sich mutig gegen die Widrigkeiten seiner Herkunft stellt und gemäß dem Rat seines Freundes MC Sher „seine innere Lava explodieren lässt“, am Ende dann doch noch eine weiße Förderin, die seiner Karriere den entscheidenden Schub gibt?
Dennoch gelingt der Ausnahmeregisseurin Akthar mit „Gully Boy“ nicht nur eine äußerst unterhaltsame Geschichte mit typischen Bollywood-Elementen, sie streift auch brennende, indische Themen wie Armut, undurchlässige soziale Schichten, häusliche Gewalt, Polygamie, Elendstourismus und Jugendkriminalität. Äußerst clever revolutioniert die Regisseurin so das Genre des Bollywood-Films, das mit seiner übertriebenen Realitätsflucht immer weniger Zuschauer findet, von innen heraus.
„Gully Boy“ in Die Rheinpfalz von März 2019