Foto: © Weltkino Filmverleih
Gestörtes Glück
In Xavier Dolans kammerspielhaftem Film »Mommy« versucht eine Mutter, das Leben ihres unberechenbaren Sohnes wieder in die richtigen Bahnen zu lenken.
Kaum jemand entwickelt zur Zeit so interessante, vielschichtige Frauencharaktere wie der 25jährige kanadische Filmemacher Xavier Dolan. In seinem halbautobiographischen Film »Ich habe meine Mutter getötet«, den der Schulabbrecher 2009 auf eigene Faust drehte, brilliert Anne Dorval als eine nicht unsympathische, jedoch schrecklich kleinbürgerliche Mutter; die Rolle ihres verwöhnten, homosexuellen Sohnes übernahm Dolan, der bereits als Kind ein wenig Schauspielerfahrung gesammelt hatte, gleich selbst. Bei seiner Premiere in Cannes in der Reihe »Junge Regisseure« wurde der Film frenetisch bejubelt. 2010 folgte die Dreiecksgeschichte »Herzensbrecher«, in der die hippe, sehnsuchtsvolle Marie ihre einzige tiefergehende Freundschaft mit dem von Dolan verkörperten Francis aufs Spiel setzt und mit ihm um die Gunst des Schönlings Nicolas konkurriert. Und welch leidenschaftlich, hochkomplexe Frauenfiguren sind erst die Ehefrau Fred (Suzanne Clément) und die facettenreich dargestellte Mutter (Nathalie Baye) von Laurence in Dolans atemberaubendem Film »Laurence Anyways« (2013). Beide Frauen müssen damit klarkommen, dass ihr Ehemann beziehungsweise ihr Sohn sich entscheidet, als Frau zu leben. In seinem kammerspielhaften, äußerst dichten Psychothriller »Sag nicht, wer du bist« (2013), der nicht wie die anderen Filme des Regisseurs in Montreal, sondern auf dem Land angesiedelt ist, lotet Dolan abermals eine Dreiecksbeziehung, bestehend aus der faszinierenden Figur einer verstockt-wütenden Bäuerin, die um ihren Sohn Guillaume trauert, dessen heimlichem Geliebten Tom und dem gewalttätigen Bruder von Guillaume, aus.
In seinem neuen Film »Mommy« geht es um den gewalttätigen 15jährigen Steve, der nach Jahren im Jugendheim wieder zu seiner inzwischen verwitweten Mutter zieht. Auch in diesem bildgewaltigen Film, der in diesem Jahr im Wettbewerb in Cannes lief, nutzt Dolan die Kraft des Kinos, um eine mitreißende Dreiecksgeschichte zu erzählen. Wie in allen vorherigen Filmen geht es auch dieses Mal um das Recht des Einzelnen auf Selbstbestimmung.
Wieder ist es die großartige Anne Dorval, die die Rolle der Mutter spielt; Antoine-Olivier Pilon spielt den verhaltensauffälligen Sohn. Verkörperte Pilon in dem 2013 von Dolan inszenierten umstrittenen Videoclip »College Boy« der Band Indochine noch den erschreckend wehrlosen, homosexuellen Prügelknaben, übernimmt er in »Mommy« die Rolle des Aggressors. Der Jugendliche leidet unter einer extremen Form von ADHS und wird nach dem Tod seines Vater immer gewalttätiger.
Diane, die prollig-pfiffige Vorstadtschönheit mit dem losen Mundwerk, holt ihren zornigen Sohn nach Hause, nachdem er im Internat das Café angezündet und damit einem Jungen schwere Verletzungen zugefügt hat. Obwohl es in diesem fiktiven Kanada im Jahre 2015 ein Gesetz gibt, das Eltern dazu anhält, ihre verhaltensauffälligen Kinder in die Obhut einer staatlichen Anstalt zu geben, versucht die übermäßig zähe Mommy, ihrem geliebten Sohn wieder ein Zuhause zu geben. Diane will ihrem Sohn die Sicherungsverwahrung auf jeden Fall ersparen. Wie ein Berserker fegt der durchgedrehte, aber liebenswerte Junge durch ihr mühsam aufgebautes kleines Vorstadtleben. Letzlich sind sich die beiden aber viel zu ähnlich, als dass die Mutter-Sohn-Beziehung funktionieren könnte. Nicht nur, dass beide äußerst labil sind, auch die ödipale Spannung zwischen der verwitweten Frau und dem adoleszenten Sohn lässt den Versuch, den Strauchelnden wieder auf die richtige Spur zu bringen, scheitern. Das von Dolan gewählte, von Kameramann André Turpin phantastisch umgesetzte, ungewöhnliche, fast quadratische Bildformat unterstreicht zum einen die Enge der Beziehung. Zum anderen wird in vielen faszinierend-irritierenden Nahaufnahmen, in denen lediglich eine Person ohne Hintergrundschnickschnack gezeigt wird, deutlich, wie alleingelassen sich die beiden mit ihren Problemen fühlen.
Doch dann tritt die sanfte Nachbarin Kyla, eine depressive Lehrerin, die im wahrsten Sinne des Wortes ihre Sprache verloren hat, in das Leben des chaotischen Gespanns. Gemeinsam erleben diese Außenseiter Glücksmomente, wie sie nur dieser wohl außergewöhnlichste Filmemacher seiner Generation auf die Leinwand bringen kann. Stammschauspielerin Suzanne Clément, die sich in »Laurence Anyways« die Seele aus dem Leib zu spielen schien, erfüllt die Rolle der stotternden Nachbarin, die im Kontakt mit diesen beiden ungewöhnlichen Menschen ihre Sprache zurückgewinnt, auf überwältigende Art mit Leben. Unglaublich, wie der an Jahren so junge Regisseur seine Darsteller stets zu solch reifen, atemberaubenden Schauspielleistungen treiben kann.
Wenn die drei Außenseiter gemeinsam zu einem Céline-Dion-Hit in der Küche tanzen, ist dies ein magischer Kinomoment, der das Zeug hat, in die Filmgeschichte einzugehen. Für hoffnungsvolle Augenblicke entsteht ein Freiraum, in dem sich die Figuren ihr Recht, sie selbst zu sein, zurückerobern. Bei Dolan sind diese Augenblicke immer eng verbunden mit den Songs, die die Protagonisten in voller Länge und zumeist auch in voller Lautstärke hören. Tatsächlich meint man zuweilen einzig am Musikgeschmack des jungen Regisseurs, der häufig seine aktuellen Lieblingssongs in seinen Filmen einsetzt, herauszuhören, dass es ihm schlichtweg an Jahren fehlt, in denen er Zeit gehabt hätte, sich mit Musik auseinanderzusetzen. Für »Mommy« wählte er nur zum Teil passende Songs von Oasis über Dido bis hin zu Lana Del Ray. Wenn jedoch beispielsweise Steve in einer ansonsten perfekten Szene in einer Karaokebar ausgerechnet zu »Vivo Per Lei« von Andrea Botticelli performt, wackelt das ansonsten feinfühlig austarierte Konstrukt aus grandioser Schauspielerinszenierung und Kameraarbeit ein bisschen. Ein weniger platt-affektiver Song hätte dieser Szene womöglich noch mehr unterströmige Wucht verliehen.
Doch wird besonders in dieser Szene deutlich, dass die lebensfeindliche Gesellschaft wieder in diese zerbrechliche Idylle einbricht. Sie treibt Diane zu einer Entscheidung, die eigentlich nicht zu ertragen ist. Der Hass gegen alle, die nicht in das normative Bild passen, bricht sich wieder Bahn – wie in fast allen Filmen Dolans. Selbst die Liebe einer Mutter kann in einer von ökonomischen Zwängen und engherzigen Menschen beherrschten Welt nicht alle Mauern überwinden. Doch in der Sturheit von Frauenfiguren wie Diane, die sich weigern, die Hoffnung und den Glauben aufzugeben und sich als Verlierer zu sehen, liegt eine Kraft, die die Kinoleinwand zu sprengen vermag und sich ihren Weg in das wahre Leben sucht.