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Foto: (c) 2014 Alamode

Schnee im Getriebe

Kennt man einen Partner eigentlich je völlig? Oder sich selbst? Welche patriarchalen Rollenerwartungen trägt man in unseren tendenziell um Geschlechtergerechtigkeit bemühten Zeiten eigentlich immer noch an Männer – und diese an sich selbst – heran? Was bleibt von dem Konstrukt Familie, wenn man romantische Verklärung und Rollenzuweisungen abzieht? Um diese existentiellen Fragen kreist Ruben Östlunds kühl-feinsinniges Drama “Höhere Gewalt”, das beim diesjährigen Festival in Cannes zurecht mit dem Jurypreis in der Reihe “Un Certain Regard” ausgezeichnet wurde und von Schweden bei der nächsten Oscarverleihung als “Bester fremdsprachiger Film” ins Rennen geschickt wird.

Sie sind eine schwedische Bilderbuchfamilie wie aus dem Ikea-Katalog: Mutter Ebba (Lisa Loven Kongsli), ihre entzückenden Kinder (Clara und Vincent Wettergren) und Vater Tomas (Johannes Bah Kuhnke), der ein bisschen zu viel arbeitet. Deshalb gönnt man sich einen fünftägigen Skiurlaub in den französischen Alpen. Das steril-funktional Hotel und die von Kameramann Fredrik Wenzel in langen Einstellungen wirkungsvoll in Szene gesetzten Skilifte erscheinen wie einsame Bastionen der Zivilisation gegen das übermächtige Weiß der Natur. Nur die Geräusche von kontrollierten Lawinensprengungen attackieren immer wieder die Urlaubsidylle.

Im ersten Teil des in fünf Kapitel eingeteilten und von Vivaldis “Vier Jahreszeiten” untermauerten Familiendramas, posieren die vier Skihasen noch für ein furchtbar gestelltes Foto auf der Piste, später schlummern alle gemeinsam in ihrer einheitlich blauen Skiunterwäsche auf dem elterlichen Bett ein.

Doch bereits am nächsten Tag wird diese Idylle in ihren Grundfesten erschüttert: Gemeinsam sitzt die Familie gerade beim Mittagessen auf der Terrasse eines Restaurants mit Panoramablick, als die titelgebende “höhere Gewalt” auf sie zurast. Keine Sorge, beschwichtigt der Vater, es handelt sich bloß wieder um eine kontrollierte Lawine – und schon zückt er wie viele andere sein Smartphone um das Naturereignis zu filmen. Doch als er feststellt, dass die achso kontrollierten, bedrohlich grollenden Schneemassen doch immer näherkommen, schnappt sich der Vater instinktiv sein Handy und ergreift die Flucht, während die Mutter entsetzt zurückbleibt und ihre Kinder zu schützen versucht.

Von diesem mit Hilfe von CGI genial umgesetzten Schockmoment an – und einer real gefilmten Lawine aus British Columbia, die direkt auf die gemütlichen Kinosessel zurollt – hat Ostlund den Zuschauer in seine Versuchsanordnung mit eingesponnen. Ebenso wie Ebba stellen sich Männlein wie Weiblein fortan permanent Fragen wie “Wie hätte ich gehandelt? Was hätte ich von meinem Partner erwartet, was von mir selbst?”

Die vermeintliche Katastrophe geht gut aus, doch nachdem sich der Schneestaub gelegt hat und der Vater, als sei nichts gewesen, zu seinem Platz zurückkehrt, ist nichts mehr wie es vorher war. Schnee hat sich im Getriebe des Familienpatriarchen und seiner Familie festgesetzt, die Familienmitglieder sind zutiefst verunsichert: Tomas leugnet zunächst sein instinktiv feiges Verhalten, Ebba kann es nicht lassen, immer wieder zu thematisieren, dass ihr Beschützer sie und die Kinder schmählich im Stich gelassen hat. Selbst die Kinder werden bockig und weinerlich.

In ihrer Not bezieht Ebba sogar ein befreundetes Paar (Kristofer Hivju und Fanni Metelius) in ihren Kummer mit ein. Deren anschließendes Bettgespräch etabliert im Drama einen typisch skandinavischen, humorvollen Ton, der die Absurdität der Situation noch vertieft. Diesem skurrilen Witz und Östlunds intelligenter Inszenierungskunst ist zu verdanken, dass dieses bitterkomische Drama letztlich nicht nur Ängste, sondern auch ein ganz zartes Umdenken in den Zuschauern freisetzt …

Radio Erft / Nov. 2014