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Foto (c) Pandora

Die Pointe des Lebens

Mark Noonans Low-Budget-Kleinod „Familienbande“ besticht durch seine Hauptdarsteller, seine Wahrhaftigkeit und seinen Witz.

Es gibt Filme, die man nicht so leicht vergisst. Mark Noonans Langfilmdebüt, das den misslungenen und irreführenden deutschen Titel „Familienbande“ trägt, gehört definitiv dazu. Die Tragikomödie, die aus der Perspektive eines Mädchens erzählt wird, lief unter dem viel passenderen Originaltitel „You’re ugly, too“ bei der diesjährigen Berlinale in der Sektion Generation. Dennoch ist der immer wieder urkomische und zugleich zutiefst melancholische Film eigentlich kein Kinderfilm, sondern eine feinsinnige Studie über zwei authentisch wirkende Außenseiter, wie man sie nur selten im Kino zu sehen bekommt. 

Nachdem ihre Mutter verstorben ist, kommt die elfjährige Stacey – hinreißend verkörpert von Newcomerin Lauren Kinsella – probeweise in die Obhut ihres einzigen Verwandten Will, der wiederum von „Game of Thrones“-Star Aidan Gillen so wunderbar zurückgenommen gespielt wird, dass man die beiden für ihre authentische Schauspielleistung mit Preisen überhäufen möchte.

Will wird für die Betreuung seiner Nichte vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen, darf sich aber nicht den kleinsten Fehler erlauben, sonst droht ihm erneut Haft und Stacey die Einweisung in ein Heim. So muss er sich jeden Tag um eine bestimmte Uhrzeit bei seinem Bewährungshelfer melden, selbst wenn er gute Gründe hätte, dies einmal später zu tun. Warum er im Gefängnis saß, behält Will lange ebenso für sich wie die altkluge und vorlaute Stacey ihre Trauer. Die beiden Außenseiter aus der Arbeiterschicht, die sich trotz ihrer Verwandtschaft noch gar nicht kennen, ziehen gemeinsam in eine Wohnwagensiedlung in den irischen Midlands, wo Staceys Mutter einen Karavan besaß. Bereits auf der Fahrt dorthin liefern sich die beiden Meister-Lakoniker grandiose verbale Wortgefechte voll ruppigen irischen Humors.

Dennoch bemüht sich die aus der Not geborenen Kleinstfamilie in dem von Kameramann Tom Comerford in gedämpft-melancholischen Farben eingefangenen Trailerpark um einen halbwegs normalen Alltag. Dies ist jedoch alles andere als einfach, da Stacey – vermutlich als Folge ihrer traumatischen Kindheit – an Narkolepsie leidet und deshalb vorerst nicht eingeschult werden kann. Der Ex-Knacki hat dagegen nicht gerade rosige Aussichten auf Arbeit.

Noonan, der auch das Drehbuch schrieb, umkreist und beobachtet seine Hauptfiguren, so wie sich die beiden gegenseitig bissig-vorsichtig abtasten. Er arbeitet zudem immer wieder mit unspektakulären Mini-Rückblenden und bringt so dem Zuschauer die vom Leben schwer geprüften Hauptfiguren erstaunlich nahe – ohne ihnen jemals die Vielschichtigkeit zu nehmen, die jedem Menschen innewohnt. So vergreift sich der wohlmeinende und im Grunde herzensgute Will auch schon mal an Staceys Tabletten, um seine recht ausweglose Situation für ein paar Stunden vergessen zu können. Die überforderte kleine Kratzbürste dagegen vergreift sich immer wieder im Ton gegenüber ihrem probeweise sorgeberechtigten Onkel.

Als die attraktive, aber verheiratete Nachbarin Emilie (Erika Sainte) mit ihrem kleinen Sohn ins Leben der beiden tritt, scheint sich ihre schwierige Beziehung zum Guten zu wenden. Doch die Folgen des tragischen Familiengeheimnisses, das zwischen ihnen steht, können sie letztlich nur allein bewältigen. Sie tun es auf ihre ganz eigene Weise, was sehr glaubwürdig eben nicht auf das übliche Film-Happy-End hinausläuft.

Dennoch bekommt Will zuletzt noch einmal die Gelegenheit, Stacey den zu Anfang des Filmes begonnenen schlechten Witz – dessen Pointe der Tragikkomödie seinen Titel gab – zu Ende zu erzählen. Aber die weitaus spannendere Pointe schreibt hier das wahre Leben, das aus jeder Pore dieses zärtlichen kleinen Juwels von einem Film zu strömen scheint.

Ostsee-Zeitung / Nov. 2015