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Foto: (c) Universum

Der Weg ins Leben

Hätte es damals, 1957, diese eine Hebamme nicht gegeben, wäre die Welt heute um einen ausgezeichneten Filmemacher ärmer: Denn Martin Provost, für „Séraphine“ mehrfach prämiert, verdankt sein Leben einer selbstlosen Unbekannten, die ihm nicht nur auf die Welt half, sondern ihm auch noch Blut spendete. Jener engagierten Geburtshelferin widmet er auch seinen neusten Film „Ein Kuss von Béatrice“, in dem es um eine Hebamme alten Schlages geht. Und um eine in die Jahre gekommenen Lebefrau, die ihr aufzeigt, wie sehr sie über ihren geliebten Beruf ihr eigenes Leben vernachlässigt. Mit Catherine Frot und Catherine Deneuve treffen in dieser Tragikomödie, die bei der diesjährigen Berlinale außer Konkurrenz lief, die beiden Grandes Dames des französischen Kinos aufeinander.

Gemeinsam schaffen es die beiden Spitzendarstellerinnen souverän, einige ärgerliche Drehbuchschwächen zu überspielen, die Martin Provost sich für seinen neuen Film erlaubte: Die 49-jährige Claire ist nämlich leider zu gutherzig angelegt, sodass die beiden grundverschiedenen Frauen, die sich nach Jahrzehnten zum ersten Mal wiedersehen, nie derart aufeinander rasseln, dass der Film so richtig Fahrt aufnehmen würde. Dabei liefert die Leinwandikone Deneuve als verlebte Femme fatale der biederen Claire jeden erdenklichen Anlass zum Ausrasten: So sitzt die immer noch glamouröse, aber hoffnungslos abgebrannte Ex-Stiefmutter kurz nach der OP ihres irreparablen Hirntumors schon wieder am Pokertisch und säuft und schlemmt unbeirrt weiter.´

Nach Paris gekommen ist die selbsternannte „ungarische Fürstentochter“ eigentlich um mit Claires Vater, einem ehemaligen Olympia-Schwimmer, reinen Tisch zu machen. Einst war sie seine Geliebte – für ihn war sie die Frau seines Lebens. Er schwärmte stets von ihr, sie gäbe immer alles bei ihrem (titelgebenden) Kuss. Als er sie aber in ein biederes Leben auf dem Land zwängen wollte, nahm Béatrice in Panik damals lieber die hübschen Beine in die Hand.

So ist sie aufrichtig schockiert, als sie Claire wieder trifft und erfahren muss, dass ihr Vater sich das Leben nahm, nachdem sie ihn verlassen hatte. Dadurch verlor seinerzeit Claire nicht nur ihre Ersatzmutter, die sie heimlich bewunderte und liebte, sondern auch ihren Vater. Dennoch nimmt die Hebamme, die nicht aus ihrer grundanständigen Haut kann, die todgeweihte, nicht mehr ganz so unabhängige Béatrice letztlich bei sich auf. Die Stiefmutter will ihr neben ihrem letzten Schmuck ein paar ihrer wertvollen Lebenserfahrungen vermachen.

Tatsächlich inspiriert sie Claire, sich wieder für ein bisschen mehr Abenteuer und die Liebe zu öffnen. Außerdem hilft sie ihr, eine beruflich schwere Zeit durchzustehen, denn die Entbindungsstation, auf der sie arbeitet, soll geschlossen werden und einem auf Effizienz getrimmten Geburtszentrum weichen.

In diesen Szenen, die in realen, heutzutage mehr und mehr für unrentabel befundenen Kliniken spielen und zum Teil echte Geburten zeigen, spürt man die brennenden politischen Ambitionen des Regisseurs, der sein Leben nun mal einer Hebamme verdankt. Auch in Deutschland wird dieser lebenswichtige Beruf unverschämt schlecht honoriert und ist vom Aussterben bedroht.

Provost zeigt authentisch, wie die Babys in Claires Wirkungsstätte in menschlicher Atmosphäre zur Welt kommen – ganz im Kontrast zu den sterilen Geburtsfabriken, in denen die von Arbeitslosigkeit bedrohte Hebamme sich zwischendurch vorstellen muss. Diese wichtigen Menschen, die einem den Weg ins Leben weisen – genauso wie es eine lebensfrohe Stiefmutter zu tun vermag – verdienen diesen überaus charmanten Film allemal. Und zudem unsere volle Unterstützung.

Stimme / Juni 2017