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Foto (c) Universum

Der Kreislauf des Lebens

Der Zuschauer taucht ein in einen sichtlich von Hand gezeichneten schrecklichen Sturm auf hoher See. Ein Mann mit Knopfaugen – als hätte Hergés Neffe ihn gezeichnet – kämpft um sein Leben. Er schafft es mit Müh’ und Not bis zu einer einsamen Insel, erkundet sie und fällt recht bald in eine gefährliche Felsspalte, aus der er nur durch einen sehr engen Gang schwimmend wieder entkommen könnte. Bereits zu Beginn zieht der eigenwillige Sog, der von dem meditativen Animationsfilm “Die rote Schildkröte” von Michael Dudok de Wit ausgeht, den Zuschauer tief in die Geschichte hinein. Das Ringen des namenlosen Mannes mit seinem Schicksal wird rasch zum Kampf des Betrachters.

Schon die Produktionsgeschichte macht “Die rote Schildkröte” einzigartig: Zum ersten Mal arbeitete das weltberühmte Studio Ghibli, aus dem Meisterwerke wie “Prinzessin Mononoke”, “Chihiros Reise ins Zauberland” und “Das wandelnde Schloss” stammen, mit einem nicht-japanischen Filmemacher zusammen. Niemand Geringerer als Ghibli-Mitbegrüner Isao Takahata forderte den offenbar seelenverwandten Regisseur Michael Dudok de Wit zur Zusammenarbeit mit seinem Hause auf, nachdem er sich den oscarprämierten Kurzfilm “Father and Daughter” (2000) des Niederländers mehrfach begeistert angeschaut hatte.

Auch de Wits erster Langfilm, der in Cannes in der Sektion “Un Certain Regard” mit dem Spezialpreis ausgezeichnet wurde, war in diesem Jahr zu Recht für den Oscar nominiert. Gewonnen hat allerdings der auf ganz andere Art sehr einnehmende, vollständig computergenerierte “Zoomania” von Disney.

Gesprochen wird gar nicht in dem wunderschön altmodisch wirkenden französisch-japanisch-belgischen Animationsfilm, an dem neun Jahre gearbeitet und gezeichnet wurde. Nicht nur deshalb ist der Film trotz seiner FSK-Null-Einstufung eher für ältere oder kontemplativ veranlagte Kinder, vor allem aber auch für Erwachsene geeignet. Er streift auch die unberechenbaren Gefahren und Schattenseiten des Lebens. Gerade durch seine Wortlosigkeit gelingt es dem bezaubernd reduziert gezeichneten Film, an archaische Gefühle des Zuschauers anzuknüpfen. Der sehr einfühlsame Score des Franzosen Laurent Perez Del Mar und die stets präsenten Naturgeräusche tragen dazu einen großen Teil bei.

Der namenlosen Hauptfigur jedenfalls gelingt es zunächst, sich aus seiner existenzbedrohenden Misere zu befreien. Der Gestrandete stärkt sich mit ein paar Früchten und macht sich – von ein paar vorwitzigen Einsiedler-Krabben beobachtet – daran, Bambusstab für Bambusstab ein Floß zu bauen, um die recht einfache, einsame Insel baldmöglichst wieder verlassen zu können. Erleichtert sticht der Zuschauer mit ihm in See, doch nur wenige 100 Meter vor der Insel wird sein hölzernes Gefährt von einem unbekannten Wesen zerstört. Sisyphosgleich baut er ein zweites und ein drittes Mal ein Floß, das jedoch gleichermaßen torpediert wird. Es stellt sich heraus, dass eine riesenhafte, rote Schildkröte ihn daran hindern will, die Insel zu verlassen.

Kurz darauf wandelt sich die deprimierende Robinsonade in eine Geschichte reich an magischem Realismus, in der der Mann auf wundersame Weise eine Frau findet und sich entscheidet, sein Leben auf der Insel zu verbringen. Fortan wird viel mit wenig Mitteln erzählt, und immer, wenn die simple Geschichte sich etwas in die Länge zu ziehen droht, passiert etwas, das die Stabilität des Alltags des Adam-und-Eva-gleichen Paares durchrüttelt: Die Geburt ihres Sohnes, sein Heranwachsen, ihr eigenes Älterwerden und natürlich auch der Tod, ebenso wie unvorhersehbare Katastrophen, gehören nun mal zum Kreislauf des Lebens. In der Tierwelt kommt noch das Motiv des Fressen und Gefressenwerdens hinzu, wohingegen der Mensch darauf angewiesen ist, zu lieben und wiedergeliebt zu werden.

Von mit 3D-Effekten vollgeballerten Streifen, wie sie im Wochentakt in die Kinos kommen, ist diese zeitlose Filmfabel so weit entfernt wie ein spektakuläres Feuerwerk von einer Rose. Doch man fragt sich nach dem Film verstärkt: Was macht das Leben und einen guten Animationsfilm eigentlich aus?

Mittelbayerische / März 2017