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Der edle Pferdedieb
Das auf der diesjährigen Berlinale mit dem CICAE Art Cinema Preis ausgezeichnete Drama „Die Flügel der Menschen“ bringt dem Zuschauer das ferne Kirgisien ganz nahe.
„He, du Schlaumeier“, greift ein Kirgise in einer der aufrührerischsten Szenen von „Die Flügel der Menschen“ den Imam an, als dieser einer Dorfbewohnerin den Mund verbieten will. „Die kirgisischen Frauen haben das Volk angeführt, gegen Feinde gekämpft und ihr Land verteidigt. Und ihr verhüllt sie von Kopf bis Fuß, isoliert sie vom Volk und macht sie zu Zombies. Der Glaube soll den Menschen reinigen – ihr benutzt ihn für die Gehirnwäsche.“ So wie der namenlose Kirgise empfindet auch der Protagonist von Aktan Arym Kubats Drama die gesellschaftlichen Umbrüche in seinem Land. Die Leute nennen den Sonderling einfach nur Zentaur, denn er fühlt sich den Pferden, die das Nomadenvolk einst als „Die Flügel der Menschen“ bezeichnet hat, immer noch verpflichtet und verbunden. Er glaubt fest daran, dass sein Volk von diesem Mischwesen aus Mensch und Pferd abstammt.
Zentaur wird von Regisseur Aktan Arym Kubat selbst gespielt. Der „Poet des Alltäglichen“, wie ihn viele Filmexperten nennen, hatte bereits in seinem preisgekrönten Drama „Der Dieb des Lichts“ – in dem es um einen Elektriker geht, der Strom für die Ärmsten abzweigt – neben der Regie die Hauptrolle übernommen.
In seinem fünften Langspielfilm geht es wieder um einen Dieb aus edlen Motiven: Zentaur lebt mit seiner taubstummen Frau Maripa (Zarema Asanalieva) und seinem Sohn Nurberdi (Nuraly Tursunkojoev), der nicht sprechen will, in einem kleinen Dorf in einer dünn besiedelten Bergregion Kirgisistans. Mit diesem Drehbuchkniff führt Kubat, der das Skript gemeinsam mit Ernest Abdyjaparov verfasst hat, geschickt die schwerwiegenden Kommunikationsprobleme ein, die der traditionsbewußte Mann mit vielen seiner Zeitgenossen hat.
Zentaur widersetzt sich dem fanatischen Islamismus, aber auch dem Kapitalismus, der sich in Kirgisistan seit dem Zerfall der Sowjetunion ausgebreitet und die Menschen gierig und engherzig gemacht hat. Seit das Dorfkino, in dem er mit Begeisterung als Filmvorführer gearbeitet hat, in eine Moschee umgewandelt wurde, arbeitet er gelegentlich als Bauhelfer. Ansonsten kümmert sich der melancholisch veranlagte Mann rührend um seinen fünfjährigen Sohn, erzählt ihm beseelt die alten Mythen seines Volkes. Die Filmrollen von Tolomush Okeyevs fantasievollem Lieblingsfilm „The Red Apple“ aus dem Jahre 1975 trägt der kauzige, warmherzige Don Quichotte stets mit sich herum. Zumindest tagsüber.
Nachts nämlich muss Zentaur dem Rauschen seines Nomadenblutes folgen und entwendet teure Rennpferde, die für die ortsansässigen Oligarchen wie seinen Bruder Karabay (Bolot Tentimyshov) lediglich Statussymbole sind. Mit gen Nachthimmel ausgebreiteten Armen galoppiert er auf den Pferden durch die beeindruckende Landschaft und fühlt sich seinen Vorfahren wieder ganz nah. Kameramann Khassan Kydyraliev findet für diese Szene Weite atmende Bilder, fängt poetisch die Schönheit des Alatau-Gebirges ein, in die Zentaur die Tiere nach seinem wilden Ritt stets wieder entlässt. Doch nicht nur deswegen gerät der Pferdenarr bald in Schwierigkeiten.
Auch seine platonische Beziehung zu der schönen Witwe Sharapat (Taalaikan Abazova), die ihren Mann in Afghanistan verloren hat, wird in seinem nun vom konservativen Islam geprägten Dorf mit Argusaugen betrachtet. Schon bald erreicht der bösartige Tratsch auch Zentaurs junge Ehefrau.
So warnt der Film über einen edlen Pferdedieb aus einem fremden Land eindringlich und doch mit leichter Hand vor Fanatismus und Profitstreben. Aber auch davor zu vergessen, woher man kommt, und dem damit einhergehenden Werteverlust – eine wunderbare Botschaft, die wohl in jedem Land der Welt verstanden wird.
Stimme / Dez. 2017