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Die Söhne Abrahams
Filme über bei der Geburt vertauschte Söhne gibt es einige. Man denke nur an die französische Komödie „Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss“ von 1988 oder das koreanische Drama „Like Father, like son“, das in Cannes 2013 den Großen Preis der Jury gewann. Der zweite Film von Lorraine Lévy, „Der Sohn der Anderen“, der bereits aus dem Jahr 2012 stammt, aber unverständlicherweise erst jetzt hierzulande anläuft, gewinnt dieser Thematik dennoch ganz neue Seiten ab. Lévys Protagonisten, die auch ihrer Feder entstammen, werden erst mit fast 18 Jahren in eine massive Identitätskrise geworfen – also an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Zudem birgt die tragische Verwechslung politischen Sprengstoff in sich, wurde in ihrem Fall doch ein palästinensisches mit einem israelischen Kind vertauscht.
Ein Bluttest, den Joseph (Jules Sitruk) für die israelische Armee absolvieren muss, bringt es ans Tageslicht: Der verträumte Lockenkopf, der Musiker werden möchte, kann nicht der Sohn seiner wohlhabenden Eltern sein. Seine Mutter Orith Siberg (Emmanuelle Devos), eine Ärztin, findet heraus, dass ihr Sohn mit einem anderen Kind 1991 bei einem Bombenangriff auf das Geburtskrankenhaus in Haifa vertauscht wurde. Ihr leibliches Kind Yacine (Mehdi Dehbi) wuchs stattdessen hinter der abgeschotteten Grenzmauer im Westjordanland bei palästinensischen Eltern auf.
Bei einem ersten Treffen kommen sich die starken Mütter Orith und Leila Al Bezaaz (Areen Omari) – die von zwei ebenso beeindruckenden Schauspielerinnen verkörpert werden – ein wenig näher, sie tauschen Fotos aus und erzählen einander von ihren Söhnen. Eine erste Gemeinsamkeit erleichtert die Annäherung: Oriths Familie stammt aus Frankreich, Leilas vermeintlicher Sohn Yacine studiert Medizin in Paris. Französisch wird in diesem Film – in dem auch arabische, hebräische und englische Dialoge zu hören sind – auf diese Weise zu einem neutralen sprachlichen Boden, auf dem man sich begegnen kann.
Doch bei einem ersten Besuch wird deutlich, wie groß der Graben – zumindest zwischen den Vätern – noch ist: Josephs vermeintlicher Erzeuger Alon (Pascal Elbé), ein hoher Offizier bei der Armee, und Yacines „Vater“ Said (Khalifa Natour), der, obwohl er Ingenieur ist, nur in seinem Dorf als Automechaniker arbeiten darf, verharren in ihren althergebrachten Vorurteilen. Sie liefern sich recht schnell einen Schlagabtausch, der das komplexe, schier unlösbare Problem des bereits über 60 Jahre währenden Nahostkonflikts deutlich werden lässt.
Auch Yacines Bruder Bilal will nichts mehr von seinem einst heiß geliebten Bruder wissen. Für ihn gehört er nun zu den Erzfeinden. Joseph wiederum, zuvor noch ein Lieblingsschüler des Rabbi, wird von der Gemeinde ausgeschlossen, da er das Privileg per Geburtsrecht ein Jude zu sein, nicht mehr besitzt. Doch anstatt zu verzweifeln, beginnen die in liebenden und unterstützenden Familien aufgewachsenen und somit in sich ruhenden Söhne, sich gegenseitig auf eigene Faust zu besuchen. Dank des subtilen Drehbuchs und der Aufnahmen an Originalschauplätzen erfährt der Zuschauer ganz nebenbei von den Auswirkungen und der Realität des Nahostkonflikts.
Es ist ein Konflikt, der hier auf einer persönlichen Ebene gelöst werden könnte: Mehr und mehr entscheiden sich die Mütter dafür, keinen Sohn verloren, sondern einen weiteren dazu gewonnen zu haben. „Wir sind Ismael und Isaak“, sagt Yacine einmal zu Joseph vor einem Spiegel: Der gemeinsame Vater der beiden, Abraham, gilt sowohl als Stammesvater der Israelis, als auch der Araber. Die Juden definieren sich jedoch als Nachkommen Isaaks, die Araber stammen nach dem Koran von Ismael ab. Auch wenn das Drama offen endet, zeigen die beiden Söhne doch, dass die junge Generation vielleicht im Stande ist, sich auf das einander Verbindende zu besinnen, anstatt den gegenseitigen Hass weiter zu schüren. Diese schlichte Botschaft, die jedoch der einzige Ausweg aus der uralten Misere zu sein scheint, wird dabei auf ganz unaufdringliche Art vermittelt. Das macht „Der Sohn der Anderen“ zu einem der sehenswertesten Filme dieses Jahres.
Radio Berg / Sept. 2015