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Foto (c) © Koch Films

Bambi auf dem Eis

Der norwegische Regisseur Joachim Trier zeigt in »Der schlimmste Mensch der Welt«, wie die sogenannten Millenials ticken

Soll­te man heut­zu­ta­ge noch Kin­der bekom­men? Ange­sichts der dro­hen­den Kli­ma­ka­ta­stro­phe? War­um weiß man als Frau eigent­lich alles über männ­li­che Sexua­li­tät, Män­ner jedoch kaum etwas über Mens­trua­ti­on? Kannst du Femi­nis­tin sein und es gleich­zei­tig genie­ßen, in den Mund gefickt zu wer­den? War­um folgt mein der­zei­ti­ger Freund sei­ner Ex eigent­lich immer noch auf Insta­gram? Was soll frau bloß wer­den? Ärz­tin, Psy­cho­lo­gin oder doch lie­ber Fotografin?

Das sind Fra­gen, mit denen sich Julie, der titel­ge­ben­de »schlimms­te Mensch der Welt« aus Joa­chim Triers tra­gi­ko­mi­schen Com­ing-of-Age-Film für Erwach­se­ne her­um­schlägt. Über meh­re­re Jah­re beglei­tet der in Däne­mark gebo­re­ne, nor­we­gi­sche Fil­me­ma­cher die Ent­wick­lung die­ser wan­kel­mü­ti­gen, jun­gen Frau, die sich mit noch nicht ein­mal drei­ßig Jah­ren bereits als Ver­sa­ge­rin fühlt. Das Dreh­buch schrieb er wie­der gemein­sam mit sei­nem Freund aus Teen­ager-Zei­ten, Eskil Vogt.

Wer schon immer mal wis­sen woll­te, wie die soge­nann­ten Mil­le­ni­als ticken bezie­hungs­wei­se viel­leicht selbst eine*r ist, kommt an die­sem Film, der das Zeug zum Klas­si­ker hat, nicht vorbei. Triers fünf­ter, auf 35 mm gedreh­ter Strei­fen, der für den Aus­lands-Oscar 2022 nomi­niert war, hat die Viel­schich­tig­keit eines Romans. So ist es nur fol­ge­rich­tig, dass er in einen Pro­log, zwölf Kapi­tel und einen Epi­log unter­teilt ist.

Zu Beginn des Films stu­diert Julie Medi­zin. Rena­te Reins­we spielt die­se gleich­zei­tig vor Leich­tig­keit und Tief­gang bers­ten­de Frau und gewann in ihrer ers­ten Haupt­rol­le zu Recht in Can­nes 2021 den Preis für die bes­te Dar­stel­le­rin. Die Toch­ter aus bür­ger­li­chen Ver­hält­nis­sen, die sich um ihre Finan­zen offen­sicht­lich nicht beson­ders viel Sor­gen machen muss, »beob­ach­tet die Mit­stu­die­ren­den, haupt­säch­lich Mäd­chen am Ran­de einer Ess­stö­rung« – wie eine durch­gän­gig äußerst geschickt ein­ge­setz­te, weib­li­che Off-Stim­me erzählt.

»Wann soll­te das Leben begin­nen?«, fragt Julie sich und beginnt fürs Ers­te eine Affä­re mit ihrem Pro­fes­sor. Kurz dar­auf sat­telt sie zur Psy­cho­lo­gie um, ehe sie fest­stellt, dass ihre eigent­li­che Lei­den­schaft der Foto­gra­fie gehört. Dann lernt sie in einer Bar den 44-jäh­ri­gen Aksel ken­nen. Die­ser wird wie­der von Anders Dani­el­sen Lie ver­kör­pert, der auch schon in den ande­ren bei­den Tei­len der soge­nann­ten Oslo-Tri­lo­gie von Joa­chim Trier eine Haupt­rol­le spielt. Sowohl in »Auf Anfang« (2006) als auch in »Oslo, 31. August« (2011) ver­kör­pert er einen an der Mul­ti­op­tio­na­li­tät ver­zwei­feln­den Spröss­ling des Oslo­er Bür­ger­tums. In »Der schlimms­te Mensch der Welt« gibt der mitt­ler­wei­le über 40-jäh­ri­ge Dani­el­sen Lie – in sei­ner Rol­le als eta­blier­ter Comic­zeich­ner – den Staf­fel­stab an Reins­we wei­ter. So will sein Aksel sich eigent­lich nicht auf eine ernst­haf­te Lie­bes­be­zie­hung mit Julie ein­las­sen, spürt er doch, dass sie noch auf der Suche nach sich selbst ist. In dem Moment, in dem er ver­sucht, ihr dies zu erklä­ren, ver­liebt sie sich natür­lich in ihn.

Doch trotz aller Lie­be ist der Genera­tio­nen­un­ter­schied zu groß. Dies wird beson­ders deut­lich in Aksels Rede über das Ver­schwin­den phy­si­scher Kul­tur­gü­ter, sein Erin­nern an eine Zeit, »in der Kul­tur über Gegen­stän­de wei­ter­ge­ge­ben wur­de« – doch die Welt, die er kennt, ist ver­schwun­den. Dies wird er auch spä­ter schmerz­haft mer­ken, als der einst für sei­ne zum Teil sexis­ti­schen Comics gefei­er­te Zeich­ner sich nun in einem Radio­in­ter­view für die Miso­gy­nie in sei­ner Kunst recht­fer­ti­gen muss – und dabei die Con­ten­an­ce verliert. 

So kommt es, wie es kom­men muss, wäh­rend eines Wochen­en­des mit Aksel und sei­nen mitt­ler­wei­le geset­tel­ten Freunden, die bereits nerv­tö­ten­de Kin­der haben und Julie mit Fra­gen nach ihren beruf­li­chen Plä­nen auf den Geist gehen, bekommt ihre Lie­bes­be­zie­hung ers­te Risse. Kurz dar­auf lernt Julie auf einer Par­ty, in die sie sich ein­schleicht, den etwa gleich­alt­ri­gen Eivind (Her­bert Nord­rum) ken­nen. End­lich jemand, der sie nicht fragt, wer sie ist und was sie macht. Schon bald flüs­tern sie sich kichernd ihre dun­kels­ten Geheim­nis­se ins Ohr und loten die Mög­lich­kei­ten aus, ein­an­der ken­nen­zu­ler­nen, ohne ihren jewei­li­gen Part­nern untreu zu werden.

Doch das Ver­lan­gen ist groß, und in einer der roman­tischs­ten Sze­nen der jün­ge­ren Film­ge­schich­te betä­tigt Julie den Licht­schal­ter in der Küche ihrer gemein­sa­men Woh­nung mit Aksel – und die Zeit steht still. So kann sie unge­stört und ohne schlech­tes Gewis­sen in einer Art Par­al­lel­uni­ver­sum zu ihrer neu­en Lie­be eilen, vor­bei an erstarr­ten Per­so­nen, wäh­rend der Wind immer noch sanft durch ihr Haar streift. Eine Welt wie in einem mit­rei­ßen­dem Musi­cal. Auf­re­gend foto­gra­fiert von Kame­ra­mann Kas­per Tuxen, der auch schon mit Gus Van Sant und Mike Mills zusam­men­ge­ar­bei­tet hat. Über­haupt unter­streicht der Sound­track immer pas­send die Gefühls­welt sei­ner Prot­ago­nis­ten. Ola Fløt­tum ist – neben Stü­cken von Bil­lie Hol­li­day oder Todd Rund­gren – für die nie­mals ins Kit­schi­ge drif­ten­de, aber den­noch emo­tio­na­le Musik zuständig.

Zudem spielt Trier vir­tu­os mit fil­mi­schen Aus­drucks­mit­teln, von sehr schnell anein­an­der geschnit­te­nen Pas­sa­gen über raf­fi­nier­te ein­ge­setz­te Rück­blen­den und wit­zi­ge Ani­ma­ti­ons­se­quen­zen bis hin zu einem fan­tas­tisch in Sze­ne gesetz­ten, psy­che­de­li­schen Trip, wäh­rend dem Julie mit ihrem neu­en Freund Magic Mushrooms aus­pro­biert und im Rausch end­lich ein­mal ihren Vater angreift. Die häu­fig abwe­sen­den Väter sind schließ­lich auch ein Pro­blem der Mil­le­ni­als. Julies Papa ist ein beson­ders gräß­li­ches Exem­plar, der über­haupt kein Inter­es­se dar­an hat, Anteil an ihrem Leben zu neh­men. Schließ­lich hat er schon genug damit zu tun, sich um sei­ne neue Fami­lie zu küm­mern. Aksel behaup­tet ein­mal zu Recht, Julie tra­ge mit ihm die Kon­fron­ta­ti­on aus, die sie sich nie getraut hat mit ihrem Vater zu haben. Wor­auf sich Julie natür­lich furcht­bar auf­regt, da er sie immer zu ana­ly­sie­ren versucht.

Als Aksel spä­ter an Bau­spei­chel­drü­sen­krebs erkrankt, gesteht er ihr, dass er bereut, es nicht geschafft zu haben, ihr zu zei­gen, wie wun­der­bar sie ist. Und auch den Zuschauer*innen fällt es schwer, sich von der bezau­bern­den Julie, die sich ein­mal selbst als »Bam­bi auf dem Eis« bezeich­net, zu verabschieden.

„Der schlimmste Mensch der Welt“ in nd von Juni 2022