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Foto (c) PD, Red Crown Productions

Was Filme können

1897 veröffentlichte Henry James seinen Roman “What Maisie Knew”, der von einer Tochter handelt, die ein zutiefst bemitleidenswertes Opfer ihrer geschiedenen Eltern wird. 115 Jahre später ließ sich das Regieduo Scott McGehee und David Siegel (“The Deep End”) von der Geschichte über eine erschütternd dysfunktionale Familie inspirieren und erschafft ein neues kleines Meisterwerk – unter dem sich nur schwer erschließenden deutschen Titel “Das Glück der großen Dinge”.

Erzählt wird aus der Sicht der kleinen Maisie (Onata Aprile), die für ihr Alter schon viel zu viel weiß: Wie man die Eltern besser nicht stört, wenn sie sich wieder einmal streiten. Wie es sich anfühlt, wenn man dann wie ein Möbelstück zwischen den getrennt lebenden Eltern hin- und hergeschoben wird, und auch das ein oder andere Mal in der Schule oder in einer Bar vergessen wird. Und die von der achtjährigen Onata Aprile so gar nicht hollywoodmäßig gespielte Maisie weiß auch, wie sich der Höllenhundatem eines narzisstisch gestörten Vaters und einer schizoiden Mutter anfühlt, die das Kind für ihren Rosenkrieg missbrauchen. Tragischerweise sind ihre Eltern zudem nicht die einzigen Mitmenschen, die die Sechsjährige nur als Abladestelle für ihre Tränen, Ängste und Wut benutzen.

Julianne Moore brilliert in der Rolle des Muttermonsters Susanna, einem Rockstar mittleren Alters. Ihren Beruf nimmt man Moore stellenweise zwar nicht ab, dafür aber umso mehr die nuancierte Darstellung einer Mutter, die verzweifelt versucht, ihr Kind zu lieben, aber bereits an ihrer beängstigend pubertären Abneigung gegen vermeintlich spießiges Verhalten scheitert.

Steve Coogan spielt Beale, den Vater des zarten Mädchens, einen arbeitsbesessener Kunsthändler mit einem britisch-bösen Mundwerk, der rasch das gutherzige, junge Kindermädchen Margo (Joanna Vanderham) heiratet, um seiner Ex eins auszuwischen und Maisie bei ihr abzugeben. Susanna kontert mit der Heirat ihres Groupies. Barkeeper Lincoln wird großartig gespielt von Alexander Skarsgård, der bereits als Ehemann von Kirsten Dunst in Lars von Triers Tragödie “Melancholia” einiges auszuhalten hatte. “Ich habe ihn für dich geheiratet” flüstert die unverantwortliche Mutter ihrer verwirrten Tochter ins Ohr, nur um wenig später die liebevolle Annäherung der beiden aus kindischer Eifersucht zu unterbinden.

Egal, ob der ziellose Lincoln, die naive Margo oder Schulfreunde, Lehrer, Appartmentwächter und Barkollege: Jeder wird in den verachtenswerten Kampf der selbstbezogenen, hochneurotischen Eltern hineingezogen. So möchte auch der Zuschauer am liebsten die Leinwand erklimmen, um das zarte Mädchen aus den Klauen dieser Egomonster zu retten. Nur gut, dass dies der zutiefst unschuldige, menschlich reagierende Lincoln, mehr und mehr in die Hand nimmt. Einer der erschütterndsten und meisterhaft erzähltesten Filme des laufenden Kinojahres.

Radio Rur / Juli 2013