Foto (c) Peripher Filmverleih
Die schwer erträgliche Einsamkeit des Seins
Ein langer Zug bahnt sich gemächlich seinen Weg durch die erhabene und gleichzeitig düster-verlassene Winterlandschaft Montanas. Bereits bei dieser ersten Einstellung spürt man die eigenwillige Handschrift der unabhängigen Filmemacherin Kelly Reichardt, der Meisterin der Entschleunigung, des Subtextes und des Minimalismus. Drei Spitzlichter hat die Eisenbahn, die geradewegs auf den Zuschauer zufährt, drei Geschichten wird Reichardt in „Certain Women“ erzählen, und drei hervorragende Schauspielerinnen hat sie dafür eingespannt: Laura Dern, Michelle Williams und Kristen Stewart.
Nur sehr lose hängen die Geschichten von einsamen Frauen zusammen, die Reichardt auf ihrem Lebensweg ein Stück begleitet. Die Autorenfilmerin entlieh sie sich den Kurzgeschichten von Maile Meloy, die 2009 unter dem Titel „Both Ways Is the Only Way I Want It“ veröffentlicht wurden.
Anwältin Laura (Laura Dern) hat ein Verhältnis mit dem verheirateten Ryan (James LeGros), doch zwischen den Bildern, die Reichardts einfühlsamer Kameramann Christopher Blauvelt dem Zuschauer von ihrem letzten Rendezvous liefert, deutet sich bereits die bevorstehende Trennung an. In der Kanzlei erwartet Laura dann auch noch ihr anstrengender Klient Fuller (Jared Harris), der durch einen Arbeitsunfall dauerhaft geschädigt wurde. Dummerweise hat er bereits einem Vergleich zugestimmt und nun die Möglichkeit zur Klage verspielt, was er seiner Anwältin partout nicht glauben will. Als ihm jedoch einer von Lauras männlichen Kollegen dasselbe sagt, sieht er sein sinnloses Unterfangen sofort ein. Laura kann es kaum fassen. Grandios, wie Reichardt, die implizit auch immer gesellschaftskritisches Kino macht, en passant die Diskriminierung von Frauen in Szene setzt.
Die zweite, leider schwächste Episode, gibt dem Zuschauer einen Einblick in die Ehe von Lauras Lover Ryan. Trotz Beziehungskrise wollen er und seine Frau Gina (Michelle Williams) ein Haus auf dem Land bauen. Deshalb möchten sie einem alten Mann seltene Sandsteine abkaufen, die seit Jahrzehnten auf seinem Grundstück herumliegen. Doch so wie Ryan schon Ginas Versuche unterwandert, die pubertierende Tochter zu erziehen, unterminiert er uneinfühlsam ihr Bemühen, in Besitz der für sie bedeutungsvollen Natursteine zu gelangen.
Neben ihrer Muse Michelle Williams, die bereits bei ihrem Drama „Wendy und Lucy“ und dem feministischen Western „Meek’s Cutoff“ mitspielte, und Laura Dern, die gerade eine spannende zweite Karriere hinlegt, konnte Kelly Reichardt noch einen weiteren Star für ihr intimes Frauendrama gewinnen: Kristen Stewart, die sich längst von ihrem „Twilight“-Image gelöst und zu einer veritablen Charakterdarstellerin entwickelt hat. Ihr gehört die herzzerreißendste Episode des Films, in der Stewart jedoch von einer Newcomerin die Show gestohlen wird.
Jamie, eine junge Frau indigener Abstammung, stolpert zufällig in einen Abendkurs über Schulrecht, den die Jurastudentin Beth (Stewart) gibt. Ein Blick in das ausdrucksstarke Gesicht und die warm leuchtenden Augen der Schauspielerin Lily Gladstone genügt, um die Liebe auf den ersten Blick zu erkennen. Ein paarmal gehen die jungen Frauen nach dem Kurs zusammen essen – bis Beth eines Abends nicht mehr auftaucht.
Die emotionale Spannung, die Reichardt und ihre herausragenden Schauspielerinnen aus dieser recht unbedeutenden Alltagsbegegnung zu ziehen vermögen, ist schlichtweg atemberaubend. Von Sehnsucht gepackt, sucht Jamie – die man bereits so zu kennen glaubt, als hätte man einen tausendseitigen Roman über sie gelesen – Beth in ihrem Wohnort auf. Eine Entscheidung, die ihr endgültig das Herz brechen wird.
Aber sie wird trotzdem ihr Leben weiterleben, weiterhin auf der einsamen Farm ihrer Arbeit nachgehen und trotz stiller Enttäuschung versuchen, immer wieder die Hand nach den anderen und dem Unsagbaren auszustrecken – genau wie Laura und Gina.
Radio Bonn / März 2017