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Foto (c) Martin Neumeyer/JOST HERING FILM

Mädchen, die den Ton angeben

Ein kleiner Überblick über die wichtigsten Filme der Sektion „Generation“.

Sie können immer noch an unserem SMS-Wettbewerb teilnehmen. Verdient Maryam Komijani Vergebung? Senden Sie 1 für ja, 2 für nein.“ Das diesjährige Programm der Sektion Generation 14plus mutet seiner jugendlichen Zielgruppe sehr viel zu: In Massoud Bakhshis Drama „Yalda – Night of Forgiveness“, aus dem das Zitat stammt, kann die junge Maryam (Sadaf Asgari), die aus Versehen ihren 65-jährigen Ehemann getötet hat, lediglich der Todesstrafe entgehen, wenn dessen einzige Tochter Mona (Behnaz Jafari) ihr vor 30 Millionen Zuschauern vergibt. Zudem kann das Publikum indem es die „1“ tippt, dafür sorgen, dass Mona – falls sie der mittellosen Maryam verzeiht – ausreichend Blutgeld, also eine Entschädigungszahlung, zukommt. Mehr Zynismus kann man sich wohl kaum ausdenken. Und dennoch gibt es die TV-Show, die sich größter Popularität erfreut,  im rigid patriarchalen Iran wirklich. Klaustrophobisch gefilmt, mit einem beeindruckenden Cast, gibt der Regisseur dem Zuschauer einen Einblick in die zutiefst frauenfeindliche und von großen Klassenunterschieden geprägte Gesellschaft des modernen Iran.

Genauso schwere Kost ist das auf einer halbautobiographischen Novelle beruhende von  beruhende Drama „Our Lady of the Nil“ von Atiq Rahimi. Anhand des Schul-Mikrokosmos eines Internats für Elite-Schülerinnen in Ruanda, das 1973 von belgischen Nonnen geführt wurde, macht Rahimi in seinem nie reißerisch aufbereiteten Film begreifbar, wie es 20 Jahre später zu dem grausamen Genozid am Stamm der Tutsi kommen konnte. Surreale Bilder ziehen den Zuschauer tief hinein in das Konglomerat aus Vorurteilen, Groll und sinnlosem Hass, aber auch in die toxischen Nachwirkungen des Kolonialismus, der die ethnischen Differenzen zwischen Hutu und Tutsi erst politisch anheizte.

Trotz seines Konfliktpotentials ist der Film „Alice Junior“ des brasilianischen Regisseurs Gil Baroni dagegen eher eine Komödie zu nennen: Eigentlich ist das von Bloggerin Anne Celestino Mota energetisch verkörperte, titelgebende Transgender-Mädchen, welches in der Millionenstadt Recife aufwächst, mit sich und der Welt im Reinen: Sie freut sich auf den ersten Kuss von ihrem Schwarm und berichtet regelmässig auf YouTube von ihren Erfahrungen als transidente Teenagerin. Doch dann muss die Halbwaise mit ihrem Vater – wegen dessen Job – für einige Zeit in ein konservatives Kaff im Süden Brasiliens ziehen. In diese Schule kommt keine wie ein Clown angezogen“, bekommt Alice Junior schon am ersten Tag von der Leiterin der katholischen Schule zu hören. Außerdem ordnet die Direktorin an, die junge Frau ausschließlich mit ihrem männlichen Geburtsnamen zu rufen, zwingt sie dazu, eine Jungs-Uniform anzuziehen, und verbietet ihr, die Mädchentoilette zu benutzen. Auch etliche engstirnige Mitschüler machen Alice das Leben schwer. Doch nach und nach findet sie in der vor Emojis, Memes, Glitzer und Herzklopfen wimmelnden Komödie Freunde und Verbündete, die wie sie alle auf der Suche nach ihrer Identität sind.

Auch die am Anfang ihrer Pubertät stehende Nora aus dem Eröffnungsfilm „Kokon“ ist auf der Suche nach ihrem individuellen Selbstverständnis. Im Schlepptau ihrer älteren Schwester Jule zieht sie im – von Kameramann Martin Neumeyer wunderbar eingefangenen – flirrend heißen Berliner Sommer durch Kreuzberg. Doch ist es nicht so einfach, zwischen Mädchen, die zumeist „schön“ sein wollen, Jungs die hauptsächlich „cool“ sein wollen, und einer alkoholabhängigen Mutter, die sich nicht richtig um ihre Kinder kümmert, seinen Weg zu finden. Erst als Nora Romy (Jella Haase) kennenlernt, beginnt sie, zu sich selbst und ihrem Körper zu stehen und sich zu ihrem Hingezogensein zu Frauen zu bekennen.

Jeanne dagegen, die junge Frau aus Zoé Wittocks bizarrem Coming-of-Age-Debütfilm „Jumbo“ verliebt sich mit Haut und Haaren in ein attraktives Fahrgeschäft auf dem Jahrmarkt, auf dem sie nachts den Müll einsammelt. Jeanne (verkörpert von Noémie Merlant aus „Porträt einer jungen Frau in Flammen“) hat eine sexuell sehr freizügige Mutter, die jedoch alles andere als begeistert von der amourösen Orientierung ihrer Tochter ist. In der Tradition von Filmen wie David Cronenbergs „Crash“ (in dem eine Gruppe von Leuten sexuelles Vergnügen aus Autounfällen zieht) mit optischen Anleihen an die Inszenierungskunst Steven Spielbergs ist dieses Drama für den Zuschauer eine hübsche Sehübung in Sachen Toleranz. Denn wie sagt der neuste Lover der Mutter gegen Ende noch so treffend : „Wen interessiert es, wen Jeanne liebt, wenn es niemanden verletzt?“

Intoleranz, Rassismus, abwesende oder schwache Eltern, Misogynie, die häufig befördert wird durch toxisch-patriarchalen Strukturen: Die Filme der Sektion „Generation“ halten der Welt der Erwachsenen einen Spiegel vor, aus dem es unschön zurückblickt. Angesichts des außerordentlich starken Jahrgangs an Filmen in dieser Sektion, in der in diesem Jahr sehr widerstandsfähige und eigenwillige Mädchen und junge Frauen den Ton angeben, könnte man mit Karl Marx zu dem Schluss kommen, dass man genau diese neuen Menschen braucht.

Berlinale 2020 in nd von Feb. 2020