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Foto: © Zorro Film

Auf jedem Laptop ein Porno

Angriff auf die bürgerliche Doppelmoral: In Malgorzata Szumowskas Film »Das bessere Leben« recherchiert eine Journalistin über studentische Escorts und hadert mit dem eigenen Lebensentwurf.

Juliette Binoche, dieser wohlklingende Name zaubert ein Lächeln auf die Gesichter der meisten Kinoliebhaber und -liebhaberinnen. Häufig fallen dann ein paar Sätze über ihre Rolle als Teresa in Philip Kaufmans Liebesmelodram »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins«. Die ungewöhnlich-gewöhnlichen, oftmals bürgerlichen und obsessiven Frauen, die sie dargestellt hat, haben sich tief in das Gedächtnis eingegraben. An Binoche fasziniert nicht zuletzt die Beredtheit des Blickes. Selbst wenn sie eine Augenklappe trägt wie in Leos Carax’ Film »Die Liebenden von Pont-Neuf«, in dem sie eine vom Erblinden bedrohte Malerin spielt, die sich in einen Penner und Feuerschlucker verliebt.

Oder sie beeindruckt mit ihrem vielsagenden Blick einen in besten bürgerlichen Verhältnissen lebenden Staatssekretär (gespielt von Jeremy Irons) und wird für ihn zum »Verhängnis«, wie in Louis Malles gleichnamigem Film. In »Drei Farben: Blau« des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski vollendet sie mit trauerschwerem Blick die Komposition ihres bei einem Autounfall verstorbenen Mannes.

Nun spielt Binoche die Hauptrolle in dem Film »Das bessere Leben« der jungen polnischen Regisseurin Malgorzata Szumowska, die von Binoches nuanciertem Spiel in Michael Hanekes Psychothriller »Caché« beeindruckt war. Der jungen Regisseurin bescheinigte Binoche auf der Pressekonferenz der diesjährigen Berlinale, sie habe während der Dreharbeiten ein »Cassavetes-Familiengefühl« erzeugt. Da Szumowska das Stilmittel des Close-up häufig einsetzt, kommen die Bewunderer der Kunst von Binoches Blick bei diesem Film auf ihre Kosten. Auch die Geschichte scheint der Darstellerin, die Steven Spielberg bereits zweimal einen Korb gegeben hat und gerne betont, dass sie Filme mit großen Botschaften nicht mag, wie auf den Leib geschrieben: Binoche spielt die gutsituierte Journalistin Anne, die für das Modemagazin Elle arbeitet. Bei der Arbeit am Schreibtisch in ihrem gepflegten Zuhause hört sie Brahms, Chopin und Beethoven. Anne verdrängt die Probleme mit ihrem Mann und ihrer Familie. Sie schreibt einen Artikel über Studentinnen, die sich prostituieren.

In Rückblenden wird erzählt, wie Anne auf Alicja (Joanna Kulig) und Charlotte (Anaïs Demoustier) trifft. Die mittellosen jungen Frauen streben genau das an, was Anne schon zu besitzen scheint: das bessere Leben. Die sommersprossige Charlotte will in Paris den hässlichen Sozialbauten in der französischen Provinz entkommen in denen sie aufgewachsen ist. Die wilde Alicja, die ihre körperlichen Vorzüge sehr genau kennt, ist aus Polen nach Paris gekommen. Aber das Leben in der Metropole ist teuer, und bald arbeiten beide für eine Escort-Agentur. Die Frauen genießen ihre neue finanzielle Unabhängigkeit und das befreiende Gefühl, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie suchen sich ihre Männer selbst aus, missfällt ihnen einer bereits am Telefon, so treffen sie sich erst gar nicht mit ihm. Beide Frauen sind gute Studentinnen. Für sie bestehen Klassenkampf und sozialer Ausgleich nicht aus politischen Diskussionen, Fördermaßnahmen und kollektiven Interessen, sondern aus dem Tausch von Sex gegen Bargeld.

In der Vorbereitungsphase trafen sich die Drehbuchautorin, die Produzentin und die Regisseurin mit studentischen Hostessen, die ein Doppelleben führen wie die Filmfiguren. Moralische Urteile werden in dem Film nicht gefällt. Er zeigt, wie die bürgerliche Identität Annes erschüttert wird. Der Einsatz von ruhigen Einstellungen und der Handkamera sowie aufregende Montagen tragen zu der erotischen Ausstrahlung des Films bei. »Das bessere Leben« will kein Gesellschaftsdrama, sondern eher »eine Frauenreflexion über Beziehungen,  über Liebe« sein, wie Binoche auf der Pressekonferenz betonte. »Was wollen wir wirklich, was ist unser Verlangen, können wir aus Verlangen auch eine Beziehung bauen?«

»Es ist eine Tatsache«, kommentiert Malgorzata Szumowska ihren Film, »dass junge Studentinnen sich in die Prostitution begeben, um ihr Studium zu finanzieren. In den Medien wird das Thema einerseits mit moralischer Missbilligung und andererseits mit voyeuristischer Neugierde behandelt.« Die Klienten der Mädchen seien oftmals die Ehemänner anderer Frauen. Die Recherche der Journalistin im Escort-Milieu verändere den Blick auf ihr eigenes Leben. »Wir wollten die Bedürfnisse auf beiden Seiten erkunden, ohne sie zu bewerten.«

Natürlich müssen die Studentinnen ihren Job auch vor ihren Freunden und ihrer Familie verbergen. Einmal fragt Anne Charlotte, die sich als Prostituierte Lola nennt, was sie an ihrem Job am schlimmsten finde. »Die Lügen, die ganze Zeit lügen zu müssen«, antwortet Charlotte. Das Doppelleben der Mädchen beunruhigt die Journalistin. Sie stellt ihren Mann zur Rede, als sie Pornos auf seinem Laptop findet. »Alle Männer in diesem Haus gucken Pornos auf ihrem Computer«, wirft sie ihrem Ehemann vor (wobei der jüngste Sohn sich lieber mit Kriegsspielen vergnügt). »Seit du über diese Nutten recherchierst, bist du völlig eigenartig«, entgegnet der Gatte.

Anne kann nicht mehr länger verdrängen, dass die Kunden der Mädchen aus demselben Milieu stammen wie ihr smartphonesüchtiger Ehemann. In langen Rückblenden erinnert sie sich an die Geschichten, die ihr die Mädchen erzählt haben: Wie ein älterer Freier der blutjungen Polin ein exquisites Mahl kredenzt, wie der graumelierte Freier Alicja nackt auf der Gitarre etwas vorspielt, bevor er sie genüsslich vollpinkelt. Der Blick der Kamera ist in diesen Momenten nie voyeuristisch, sondern eher sinnlich. Anne beginnt, sich durch die Gespräche mit den Mädchen allmählich freier zu fühlen, sie betrinkt sich mit der wilden Alicja und hört dazu queere Musik von The Knife (»Pass this on«), sie masturbiert auf dem Badezimmerfußboden, verlässt ein langweiliges Geschäftsessen mit dem Chef ihres Mannes und beginnt ihren dauerbekifften großen Sohn zu verstehen, der über die bourgeoise Lebensweise seiner Eltern schon längst nur noch lachen kann. Was bedeutet es in unserer Gesellschaft, eine Frau zu sein? Wie sollen wir leben? Wie allein sind wir eigentlich? Was ist eine Beziehung? Was ist mit unserem Verlangen? Und warum klemmt eigentlich dauernd diese verdammte Kühlschranktür? Der mutige Film gibt auf diese schwierigen Fragen keine Antworten.

Das bessere Leben / Jungle World 29.3.2012