Foto: © 2014 Warner Bros. Ent.
Familiensache
Melissa McCarthy ist in einer von Idealmaßen besessenen Gesellschaft ein gutes Role Model für junge Frauen: dick, selbstbewusst, hochtalentiert, charmant und obendrein noch glücklich verbandelt mit ihrem Komiker-Kollegen Ben Falcone. Gemeinsam schrieb sie mit ihrem Ehepartner das Drehbuch zu der Road-Trip-Komödie „Tammy“. Die Idee dazu kam Falcone bereits vor sechs Jahren, bevor seine Frau für ihre abgedrehte Darstellung der stets zu zotigen Sprüchen aufgelegten Megan in der Komödie „Brautalarm“ für den Oscar nominiert wurde. In den letzten Jahren hat McCarthy genug Einfluss gewonnen, um Stars wie Susan Sarandon für die zweite weibliche Hauptrolle zu gewinnen und auch kleinere Nebenrollen mit Schauspielgrößen wie Kathy Bates und Dan Akroyd zu besetzen.
Ihr Mann führte bei diesem Film zum ersten Mal Regie und Multitalent McCarthy, die wieder einmal eine beherzte Loserin spielt, produzierte gemeinsam mit Will Farell und Adam McKay („Die Qual der Wahl“) das persönliche Projekt. Man merkt dem Film an, dass er eine Herzenssache ist und mehr sein möchte als eine Komödie mit einer möglichst hohen Gagquote. Das Ehepaar Falcone/McCarthy will ein Bild der entwürdigenden Lebensumstände der einfachen Leute im Mittleren Westen zeichnen, sowie eine tiefschürfende Großmutter-Enkelin-Beziehung inklusive genretypischer Selbstfindung erzählen. Diese Überfrachtung tut „Tammy“ nicht immer gut.
Bereits die erste Szene in der Tammy einen Hirsch anfährt, zeigt die Stärken und Schwächen des Films zu beinhalten. Schnaufend liegt das majestätische Tier Tammy (McCarthy) zu Füssen und man weiß nicht recht, ob man lachen oder weinen soll. Doch auch wenn der Hirsch letztlich wieder aufsteht und unter den derb-zärtlichen Tiraden Tammys unbeholfen davongaloppiert bleibt ein komisches Gefühl, was man von dieser Szene nun eigentlich halten soll. Tammys Pechsträhne hält indes an. Ihr Chef Keith, dargestellt von Ben Falcone, kündigt die reichlich lädiert in den Laden hereinstolpernde Tammy.
Was liegt für die vom Schicksal an diesem Tag allzu arg gebeutelten jungen Frau näher als sich an der Schulter ihres Ehegatten (Nat Faxon) auszuweinen? Doch wie Tammy feststellen muss, hat der leider ein Verhältnis mit ihrer Nachbarin (Toni Colette). Tammy bleibt also nur die Flucht nach vorn. Gemeinsam mit ihrer alkoholsüchtigen und recht promiskuitiven Großmutter Pearl (gespielt von der Mutter aller weiblichen Road-Movie-Filme, der Oscar-Preisträgerin Susan Sarandon) ist sie schon bald in Omas blauem Cadillac auf dem Weg zu den Niagarafällen.
Die 83-jährige Großmutter nimmt man – trotz grau gefärbtem Haar und geschwollenen Füßen – der im wirklichen Leben 68 Jahre alten Susan Sarandon ebenso wenig ab, wie der fast 44-jährigen McCarthy die Enkelinnenrolle. Aber sei’s drum, erleben die beiden doch gemeinsam eine recht unterhaltsame, wenngleich nicht immer glaubhafte Flucht aus dem Alltag – was den ernsthaften Anspruch der Komödie unterläuft. Eine schwachsinnige Jet-Ski-Fahr-Episode und ein lächerlicher Raubüberfall gehören sicher zu den weniger gelungenen Episoden des Films.
Dagegen ist beispielsweise Tammys Flirt mit dem reservierten Sohn eines Farmers, der die sexgeile Großmutter abschleppt, faszinierend. Erlebt doch der Zuschauer in dieser Szene die ganze Bandbreite einer vielseitigen Schauspielerin, die in einer Minute mit ihrer Vulgarität die Lachmuskeln auf ungewöhnliche Weise reizt und in der anderen eine Zärtlichkeit an den Tag liegt, die zu Tränen rührt. Auch wenn das ambitionierte Familienprojekt „Tammy“ nicht immer funktioniert, auf die weitere Karriere Melissa McCarthys darf man gespannt sein.
Radio Berg / Juli 2014