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Foto: (c) Vivian Maier

Die Frau, die vom Himmel fiel

Ein Dokumentarfilm rekonstruiert die Biographie der Fotografin Vivian Maier, die ihr Geld als Kindermädchen verdiente und deren Bilder erst nach ihrem Tod bekannt wurden.

Es soll ja durchaus Künstler geben, die nicht davon träumen, Millionen zu scheffeln, in Talkshows aufzutreten und sich im Ruhm zu suhlen. Solch einer Künstlerin ist der Chicagoer Stadtforscher John Maloof mit seinem faszinierenden Dokumentarfilm »Finding Vivian Maier« auf der Spur.

2007 fällt dem jungen Forscher bei einer Zwangsversteigerung eine Kiste mit Negativen in die Hände. Für ein geplantes Geschichtsbuch ist er auf der Suche nach historischen Fotos von Chicago; aus diesem Grund ersteigerte er für 380 Dollar die Negative einer gewissen Vivian Maier. Die Fotos erweisen sich als ungeeignet für das Buch, dennoch scannt Maloof die Bilder ein. Ihm gefallen die Fotografien, deshalb lädt er sie auf Foren wie Flickr hoch und löst damit eine Welle der Begeisterung aus, die dazu führen wird, dass die Geschichte der Fotografie neu geschrieben werden muss.

Die angesehene Fotojournalistin Mary Ellen Mark, die in Maloofs spannendem Dokumentarfilm Maiers Fotos in Augenschein nimmt, attestiert der bis dato völlig unbekannten Fotografin großes kompositorisches Feingefühl, einen Sinn für menschliche Tragödien und einen ausgeprägten Sinn für Lichtgestaltung. Mit anderen Worten: »Sie hatte alles!« Maloof gelang es, auch die anderen bereits versteigerten Kisten mit Negativen der Fotografin zu kaufen; am Ende verfügte er über sagenhafte 100 000 Negative, 700 Rollen nicht entwickelten Farbfilm, 2 000 Rollen nicht entwickelten Schwarzweißfilms und zahlreiche 8-Millimeter- und 16-Millimeter-Filme.

Doch wer ist die Frau, die diese wunderbaren Aufnahmen gemacht hat? Bei seinen Nachforschungen erfährt Maloof, dass Vivian Maier scheinbar eine gewöhnliche Nanny war. Doch schon bald wird klar, dass von »gewöhnlich« keine Rede sein kann. Nicht nur, dass Maier mit ihren Fotografien, die sie in den fünfziger und sechziger Jahren hauptsächlich in New York und Chicago aufnimmt, tief in die Seele der von ihr Porträtierten zu blicken scheint. Nein, auch als Mensch war sie alles andere als durchschnittlich, voller geheimnisvoller Widersprüche, eine unerschrockene Sozialistin, die sich mit den Ärmsten identifizierte, und eine Feministin, für die es bereits in den biederen fünfziger Jahren selbstverständlich war, acht Monate mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex im Gepäck allein auf Weltreise zu gehen.

Einfühlsam, selbstkritisch und Widersprüche nicht glattbügelnd, folgt Maloof vor der Kamera und aus dem Off den Spuren dieser Frau, die viele, die in diesem Film zu Wort kommen, als sehr private Person bezeichnen. Ein wenig erinnert der spürbar mit viel Enthusiasmus produzierte Dokumentarfilm an Malik Bendjellouls »Searching for Sugar Man«. Dieser Film zeigt die Suche nach dem US-amerikanischen Musiker Sixto Rodriguez, der in den siebziger Jahren zwei Hits in Süd­afrika hatte. Das Rätsel um den Musiker wird am Ende des Films gelöst. Die Person der ­Vivian Maier dagegen bleibt bis zum Ende rätselhaft.

Obwohl sie in New York geboren war, hatte sie sich einen breiten französischen Akzent zugelegt, sie nannte sich mal Maier mit ei, ey oder ay oder gar Smith, und auf die Frage, was sie denn beruflich mache, soll sie geantwortet haben, sie sei »eine Art Spion«. Lediglich durch die Zeugnisse ihrer Sammelwut wird sie für die Welt ein wenig fassbarer. Glücklicherweise hortete diese ihre Persönlichkeit völlig verbergende Frau nahezu alles: Glasperlen, ihre abgelegten großen Hüte und Herrenjackets, ihre Kampfstiefel und Bustickets, Zeitungsausschnitte und Unmengen an Filmmaterial, auf dem sie besondere Momente des städtischen Lebens dem Vergessen entriss. Nicht zu Unrecht werden ihre Fotografien mit den Bildern von Altmeistern wie Henri Cartier-Bresson, Lisette Model, Diane Arbus, Robert Frank und André Kertész in einem Atemzug genannt. Dennoch tut sich die etablierte Kunstszene mit der posthumen Anerkennung Maiers schwer, da sie zu Lebzeiten selbst kaum eigene Abzüge ihrer Fotos gemacht hat. Da verfuhr sie allerdings ganz so wie beispielsweise Bresson.

Die Ausstellungen, die bislang stattgefunden haben, wurden regelrecht überrannt, das Publikum kann offenbar gar nicht genug bekommen von ihren Fotos. Man darf sich schon jetzt auf die Veröffentlichung der Fotos freuen, die Maier auf ihren Reisen im Jemen, in Ägypten, Bangkok, Indien und Südamerika gemacht hat. Bislang gibt es nur den von Maloof herausgegebenen Bildband »Vivian Maier – Street Photographer«, der viele der im Film gezeigten brillanten Straßenfotografien enthält, und einen Band mit etlichen ihrer beeindruckenden Selbstporträts.

Das Bild, das die ehemals von ihr betreuten Kinder und deren Eltern von Maier zeichnen, ist recht widersprüchlich. Einige behaupten, dass sie gut mit den Kindern umgehen konnte und das Leben aufregender war, wenn sie dabei war – kein Wunder, nahm sie die ihr anvertrauten Kinder doch überallhin mit, wo sie fotografieren wollte. Aber auch von den Schattenseiten dieser düsteren Mary-Poppins-Ver­sion ist die Rede, so soll sie ungehorsamen Kindern drakonische Strafen auferlegt haben und die Kinder auch schon mal mutterseelenallein in irgendwelchen Slums stehengelassen haben, wenn die Fotoleidenschaft sie packte. Auch von dem Männerhass dieser groß­gewachsenen Frau, deren Mutter in einem abgelegenen Schafhirtendorf in den französischen Alpen geboren wurde, ist mehrfach die Rede. Ziemlich auf der Hand zu liegen scheint, dass Maier, deren österreichischer Vater die Familie bereits früh verließ, in ihrer Kindheit schwer traumatisiert wurde.

Im Alter kümmerten sich zwei Brüder, die sie groß gezogen hatte, ein wenig um sie, indem sie ihre Miete zahlten. Verarmt und einsam starb die unglaublich talentierte Fotografin 2009 schließlich wenige Tage, bevor Maloof ihre Negative einscannte, im Alter von 83 Jahren. In einer der zahlreichen von ihr angefertigten Tonaufnahmen sagt die geheimnisvolle Frau, die durch ihre Intelligenz und ihre letztlich zu schrecklicher Einsamkeit führende Unfähigkeit, sich in die menschliche Gesellschaft einzufügen, streckenweise so wirkt, als sei sie wie einst David Bowie vom Himmel ­gefallen: »Wir müssen anderen Menschen Platz machen. Es ist ein Rad – man springt auf und fährt bis zum Ende und dann hat jemand anderes die Gelegenheit, bis zum Ende zu fahren, und wird seinerseits von einem anderen abgelöst.«

Der US-amerikanische Fotograf Joel Meyerowitz bringt das Wesen Maiers in dem Film einmal herzzerreißend schlicht auf den Punkt: »Sie hat sich nicht als Künstlerin präsentiert. Sie hat einfach als Künstlerin gearbeitet.« Einmal beobachtete ein alleinerziehender Vater, dessen Kinder Maier hütete, wie die Haushälterin mit ihrer Kamera den Inhalt eines Papierkorbs fotografierte. Der ehemalige Fernsehproduzent dachte nur: »Okay, Picasso wurde auch ausgelacht.« Wenn er wüsste, was Kunst ist, würde er es für sich behalten, hat Picasso einmal gesagt. Vivian Meier scheint es gewusst zu haben.

Jungle World / Juni 2014

 

 

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