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Foto: Drop-Out Cinema / Bildstörung

Ich sind ganz viele

Der ungewöhnlich inszenierte Low-Budget-Science-Fiction-Thriller „Coherence“ von James Ward Byrkit zieht seine Hauptfiguren und die Zuschauer gleichermaßen in eine metaphysische Gedankenhölle.

„Ich ist ein anderer“, formulierte der Schriftsteller Arthur Rimbaud im 19. Jahrhundert und sorgt damit auch heute noch für eine nachdenklich stimmende Gänsehaut. Was aber wenn das Ich auf einmal ganz viele sind? Diesem Gedankenexperiment widmet sich James Ward Byrkit unter dem ironischen Titel „Coherence“ – denn kohärent ist in diesem ungewöhnlichen Science-Fiction-Thriller zunächst einmal herzlich wenig. Mit einer ähnlichen Thematik beschäftigte sich 2004 der Zeitreisenfilm „Primer“ von Shane Carruth, der inzwischen zum Indie-Kultfilm avanciert ist. Das Zeug dazu hätte sicher auch jene neuerliche „Mindfuck“- Geschichte, die Byrkit mit seinem Co-Autor Alex Manugian im Kern ersonnen hat.

Gefilmt wurde offensichtlich mit kleinem Etat, zusätzlich aber auch mit einer ungewöhnlichen Herangehensweise: In nur fünf Nächten wurde dieser an Dogma-Filme erinnernde Indie-Science-Fiction-Thriller gedreht, die Schauspieler erhielten jeweils am Morgen Karteikärtchen, auf denen stand, in welche Richtung sich ihr Spiel am Abend entwickeln solle. Damit die acht Charaktere ihre Improvisationen ungestört entfalten konnten, gab es neben zwei Tonmeistern auch nur zwei Kameras vor Ort, die von Byrkit und Nic Sandler bedient wurden.

Der Film beginnt mit Em (Emily Foxler), die durchweg ein wenig mehr im Fokus steht als alle anderen Personen. Sie ist mit dem Auto unterwegs zu einem gemeinsamen Abendessen mit Freunden, als während eines Telefonats ihr Handydisplay zerspringt. Kurz darauf sitzt man zusammen und quatscht und isst und trinkt. Diese kammerspielartigen, zuweilen jedoch ein bisschen zu hektischen Szenen stimmen durchaus gekonnt auf die kommende verstörende Geschichte ein, indem Byrkit mit Handkamera, auffälligen Abblenden, Unschärfen und harten Schnitten arbeitet.

Der Handyempfang aller Anwesenden ist plötzlich gestört, man vermutet, dass das etwas mit dem Millerschen Kometen zu tun habe, der in dieser Nacht ungewöhnlich nah an der Erde vorbeifliegt. So kann auch Hugh (Hugo Armstrong) nicht wie abgemacht seinen Bruder, der Physiker ist, anrufen – was er im Falle, dass in dieser Nacht etwas seltsam sei, unbedingt habe tun sollen. Plötzlich fällt der Strom aus und die beschwipste Gesellschaft geht hinaus auf die Straße, um sich das Ausmaß der Störung anzusehen. Die komplette Nachbarschaft liegt absolut im Dunkeln – bis auf ein Haus zwei Blocks weiter bei dem noch Licht brennt. Zwei Gäste machen sich auf den Weg – und die seltsamen Ereignisse beginnen sich zu potenzieren.

Unbekannte klopfen an der Tür, hinterlassen Botschaften, die man eben erst selbst geschrieben hat, eine merkwürdige Box mit zum Teil an diesem Abend geschossenen Fotos aller Anwesenden taucht auf und draußen gibt es plötzlich eine sehr dunkle Zone. Ein liegengelassenes Buch von Hughs Bruder, in dem es um das paradoxe Gedankenexperiment von „Schrödingers Katze“ aus der Quantenphysik geht, stiftet zusätzliche Verwirrung. Allmählich dämmert es den Anwesenden, dass es sie plötzlich doppelt, ja mehrfach, womöglich hundertfach gibt – was noch unheimlicher ist als beispielsweise in dem ähnlich gearteten Film „Another Earth“ von Mike Cahill, indem es jeden Erdenbewohner nur einmal in Kopie gab.

Zusammen mit den Figuren darf das Publikum fortan darüber nachgrübeln, welche Formen ein solchen Szenario annehmen könnte. Ein überaus interessantes Gedankenspiel: Der abgehalfterte Schauspieler Mike (Nicolas Brendon) bekommt es zum Beispiel mit der Angst zu tun: Kann er seinen Doppelgänger-Ichs trauen? Was, wenn die anderen Mikes, die ebenso wie er Alkoholiker sind und zu Gewalttätigkeiten neigen, aggressiv werden und ihn umbringen wollen? Sollte er seinen Ichs nicht zuvorkommen? Und warum, fragt sich Em, führen ihre vermeintlichen Freundinnen plötzlich ganz selbstverständlich exakt den gleichen Dialog wie bereits vor zwei Stunden? Kann sie ihren Freunden – und viel schlimmer noch: sich selbst – trauen? Welches potenzielle Ich wird letztlich überleben? Ich sind ganz viele! – was für ein erschütternder Gedanke und was für eine fantasiereiche und anspruchsvolle Grundidee für einen Film.

Stimme / Dez. 2014