Der frühe Vogel zählt den Kranich
Im nördlichen Brandenburg werden ehrenamtlich Zugvögel gezählt, um Veränderungen in der Population rechtzeitig zu bemerken
Jeden Dienstag von Ende September bis Mitte November machen sich ehrenamtliche Helfer*innen aus Neuruppin, Kremmen, Oranienburg und Berlin noch vor dem Morgengrauen auf, um Abertausende von Kranichen zu zählen, die jedes Jahr an den Linumer Teichen, nordwestlich von Berlin, rasten. So wollen sie aktiv zum Schutz der eindrucksvollen Vögel beitragen. Ehrenamtlich organisiert wird dies von Helga Müller-Wensky, die seit 2010 dabei ist. Auf allen großen Rastplätzen Europas wird zurzeit gezählt, berichtet sie.
Die in West- und Nordeuropa heimischen Grauen Kraniche, eine von 15 Kranicharten auf der ganzen Welt, finden in dem seit vielen Jahrhunderten von seichten Wasserstellen durchzogenen Rhin- und Havelluch ideale Bedingungen zum erfolgreichen Brüten und zum Schlafen. Dort sind sie vor Fressfeinden sicher.
Berlin, 4.45 Uhr. Die Regionalbahn nach Rostock fällt leider aus. Jetzt schnell noch in die S-Bahn nach Oranienburg hüpfen. Denn in einer Stunde wollen Siegfried und Jutta die angehende Baumwartin Jeanette und mich mit dem Auto am Bahnhof einsacken, um zur Kranichzählung zu düsen.
Siegfried ist Rentner und schon seit etwa 30 Jahren ehrenamtlich in Sachen Kraniche unterwegs. Im Frühjahr hat er schon die Gelege gezählt; in diesem Jahr waren es wohl weniger – und es wurden auch weniger Brutplätze genutzt. Er vermutet, es könne daran liegen, dass seit drei Jahren wieder Wölfe in der Gegend herumstreifen. Helga bestätigt, dass besonders in Brandenburg die Kraniche kaum noch Brutplätze finden. Viele Bereiche sind leider nachhaltig ausgetrocknet, sodass nur noch wenige Auenwälder oder Feuchtgebiete übrig sind, wo sie sicher brüten können.
Glücklicherweise werden aber im Linumer Teichgebiet manche Teiche abgesenkt, und die Landwirtschaft stellt gegen Ausgleichszahlungen ebenfalls Flächen zur Verfügung, die gewässert werden können. Auch die starken Regenfälle in diesem Jahr geben Anlass zur Hoffnung.
Helga weiß zudem von einer besonderen Zusammenarbeit zu berichten: In den 80er Jahren, noch vor der Wende, stand der Kranich bereits auf der Roten Liste der bedrohten Vogelarten – da gab es aber schon Kooperationen zwischen Naturschützer*innen in der DDR und der BRD. Besonders in den Grenzgebieten wurde gemeinsam versucht, das Angebot für Brutplätze zu verbessern. Der Kranichschutz Deutschland führt ihr gemeinsames Werk heute fort.
Mit den alljährlichen Zählungen im Herbst möchte man feststellen, ob es einen Einbruch bei der Gesamtpopulation gibt. Die Zahlen werden auf der Webseite des internationalen Kranichschutzes veröffentlicht, woraus man zum Beispiel auch Rückschlüsse ziehen kann, ob sich das Zugverhalten der Kraniche geändert hat.
Helga berichtet, dass in den letzten 10 bis 15 Jahren im Bereich der Landschaftsstruktur große Veränderungen stattgefunden haben, sei es durch eine stärkere Versiegelung der Gebiete oder durch Windpark- und Photovoltaikanlagen. Deshalb haben die Kraniche zum Teil ihre Zugrouten oder Zugkorridore geändert. Wie sich die Zugrouten der sogenannten Ostzieher, die teilweise bis nach Israel und Nordafrika führen, durch die neuesten Kriegsgebiete ändern, kann man überhaupt noch nicht einschätzen.
Jetzt aber rasch zum Treffpunkt im alten Schulgebäude in Linum, in dem sich die Naturschutzstation Rhinluch befindet. Unsere fleißigen Mitzähler*innen sind schon in alle Winde verstreut: So wird zum Beispiel an der alten Poststraße zwischen Hamburg und Berlin, am Räuberberg, am Hühnerdamm oder vom Turm aus – der der Siegessäule im Berliner Tiergarten nachempfunden ist – gezählt.
6.30 Uhr kommen wir an unserer Zählstelle an. Wir haben den Ziehtenhorst-West zugeteilt bekommen. Was für ein herrlicher Morgen! Dichter Nebel schwebt noch über dem Boden, im Osten geht gerade die Sonne hinter einer kleinen Baumgruppe auf. Es sieht so aus, als würde sie alles in Brand setzen.
Die Kraniche, die eine Höhe von 1,20 Meter und ein Gewicht von bis zu sechs Kilogramm erreichen, ruhen sich noch ein wenig im Teichgebiet direkt vor uns aus. Dort haben sie eng aneinandergedrängt die Nacht verbracht. Viele putzen gerade fleißig ihr Gefieder, um es so mithilfe der Bürzeldrüse in ihrem Schnabel, die ein Sekret absondert, einzufetten und wasserfest zu halten.
Durch unser Fernglas können wir sogar die leuchtend rote Kopfplatte der erwachsenen Vögel erkennen – sie rührt von besonders stark durchbluteten Hautnoppen. In der Nähe hören wir lautstark Hirsche röhren – es ist Brunftzeit. Die ausgewachsenen Kraniche verständigen sich dagegen mit kräftigen Trompetenlauten, hinter denen sich ein komplexes Kommunikationssystem verbirgt, das noch nicht zur Gänze erforscht ist.
Kurz nach unserer Ankunft machen wir unseren ersten Eintrag. Vier ruffreudige Kraniche fliegen über unser Zählgebiet, ihr Gefieder erstrahlt in einem hellen Blaugrau, Kopf und Hals sind schwarz-weiß. Im Flug erreichen ihre Flügel eine imposante Spannweite von bis zu 2,20 Metern. Wir müssen darauf achten, ob sie nicht in letzter Minute noch abschwenken und gen Baumgruppe im Osten fliegen. Dann sind für ihre Zählung Siegfried und Jutta zuständig.
Im Westen müssen wir wiederum aufpassen, ob sie auch wirklich über die Landstraße fliegen und nicht vorher abdrehen. So vermeiden wir, Vögel doppelt zu zählen. Auch die Uhrzeiten helfen dabei. Manchmal kommen größere Gruppen angeflogen. Meist in Keilformationen, die aussehen wie eine auf den Himmel geschriebene Eins. Dann zählen wir in Zehnerschritten.
Dabei müssen wir auch Obacht geben, dass wir nicht versehentlich Wildgänse zählen, die auch um diese Zeit unterwegs sind. Da die Kraniche aber im Gegensatz zu diesen Entenvögeln im Flug ihre Beine weit nach hinten gestreckt halten, während ihr langer Hals weit nach vorn ragt, fällt es nicht besonders schwer, sie zu unterscheiden.
Bald schon bemerke ich, dass mich die Kraniche mit ihren scharfen Augen erspähen, wie ich da an den Rundballen gelehnt stehe. Ich verberge mich nun dahinter und stelle fest, dass sie jetzt nicht mehr irritiert abdrehen. »Kraniche haben auf jeder Feder ein Auge«, lacht Helga, als ich ihr später davon erzähle.
Nach getaner Arbeit finden sich alle Mitzähler*innen wieder in der Naturschutzstation ein; hier wartet schon ein tolles Frühstück auf uns. Jeanette hat auch noch einen Kuchen für die ehrenamtlichen Helfer*innen gebacken. Viele Rentner*innen sind dabei.
Alle sind neugierig auf die Zahlen der neu Eintreffenden. Wir haben bis 8 Uhr 1736 Kraniche gezählt, Jutta und Siegfried ungefähr genauso viele. Doch dann platzt Robert in die Runde, schenkt sich erst mal einen Kaffee ein. Er war am Hühnerdamm eingeteilt, an einer Stelle, wo normalerweise vier Leute zählen. Heute war er dort allein. Etwa 30 000 Kraniche hat er geschätzt.
Die ersten Hochrechnungen werden angestellt und sind um ein Vielfaches erfreulicher als die der letzten Brandenburg-Wahl. Am Turm waren es wohl an die 8000 Kraniche. Insgesamt kommen wir auf 56 915. Das sind 30 000 mehr als letzte Woche!
Als wir Linum verlassen, halten wir kurz noch an einem abgeernteten Maisfeld und beobachten, wie sich die großen Schreitvögel die Bäuche vollschlagen, um ihre strapaziöse Reise in den Süden, nach Frankreich oder Spanien, zu überstehen. Die meisten von ihnen überwintern im Westen Spaniens, in der Extremadura.
Helga hat mir erzählt, dass die Kraniche sich dort von den Eicheln der Korkeichen ernähren. Leider werde aber zurzeit mit EU-Mitteln das Abholzen dieser Bäume unterstützt, um dort Obstplantagen anzulegen, die lukrativer sind. Es gibt also viele Baustellen, an denen man aktiv werden kann.
Neben pflanzlicher Nahrung schmecken Kranichen übrigens auch Mäuse, Frösche, Käfer, Würmer und Schnecken. Ich frage Siegfried, wie die Bauern das eigentlich finden, dass die Kraniche sich an ihren Feldern gütlich tun. Manchmal erwischen sie dabei wohl auch die Wintersaat.
Doch Siegfried beruhigt mich: Kraniche gelten als Vögel des Glücks, die Bauern sind froh, wenn sie kommen, ehrlicherweise aber auch, wenn sie wieder abhauen. Mich haben sie auf alle Fälle glücklich gemacht. Ich werde wiederkommen.
Foto (c) Gabriele Summen