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Vom Leben in Ausnahmesituationen

74. Berlinale: Filme über starke Frauen in der Sektion Panorama – verstörende Diskussionen am Rande 

Sex im Alter? So einige Filme der diesjährigen Berlinale beschäftigten sich mit diesem häufig immer noch tabuisierten Thema. Während jedoch der umjubelte Wettbewerbsfilm „My Favourite Cake“ – über eine lebens- und liebeshungrige Seniorin im repressiven Iran – bei der Bärenvergabe unverständlicherweise leer ausging, bekam wenigstens „Memories of a Burning Body“ den begehrten Panorama-Publikumspreis der Sparte Spielfilm.

Regisseurin Antonella Sudasassi Furniss aus Costa Rica findet in ihrer Hybrid-Dokumentation eine kreative Lösung, um drei Seniorinnen, die anonym bleiben wollen, eine Stimme zu verleihen: Aus dem Off hört man die Stimmen der Frauen Ende 60, die in einer Zeit extremer sexueller Unterdrückung aufgewachsen sind. Sie sprechen über ihre Traumata, aber auch ihre Sehnsüchte und Geheimnisse. Im Bild zu sehen ist aber die 65-jährige Sol Cabello, die durch eine Wohnung voller Erinnerungen streift und ihre Erfahrungen berührend ausspielt. Immer wieder auch betritt sie dramatisierte Sequenzen, in denen aus drei Erinnerungsspuren kunstvoll eine Geschichte gewebt wird. Drei weitere Schauspielerinnen verkörpern ihre Erfahrungen während verschiedener Lebensphasen: Mit elf das erste Mal verliebt, die Mutter äußerst erzürnt darüber. Die erste Periode ist ein Schock, da niemand sie aufgeklärt hat. Es wird geheiratet, doch leider den Falschen. Nach der ersten Liebesnacht fragt die zu einem Ich verschmolzene Frau, ob er alles richtig gemacht habe, weil sie nichts empfunden hat. Wenn sie sich selbst befriedigt, ist sie nämlich sehr wohl zu multiplen Orgasmen fähig. 

Doch es kommt noch viel schlimmer: Ihr Mann schlägt sie krankenhausreif, als sie ihr Baby schützen will. Die Eltern sagen, sie soll ihm verzeihen. 17 Jahre bleibt sie mit ihm verheiratet, wird wieder und wieder vergewaltigt und geschlagen, selbst als sie an Krebs erkrankt. Dann lässt sie sich endlich scheiden. Wie überglücklich sie nun ist, ihr Leben und ihre Lust zurückzubekommen! Mit diesem Film hat sich die Regisseurin den Wunsch erfüllt, ein Gespräch über Intimität und Lust, aber auch über weibliche Unterdrückung und Schmerz zu führen, das mit ihrer Großmutter leider nie gehabt hat. „Man braucht einen Feuerwehrmann, um das Feuer in mir zu löschen“, heißt es an einer Stelle. Die Resilienz dieser Frauen kann man nur bewundern. Der kaleidoskopartige Film ermutigt Frauen, sich zu befreien, wieder die Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen und sich ihres Körpers zu erfreuen. Egal in welchem Alter. 

Eine starke Frau verkörpert auch die großartige Birgit Minichmayr in Josef Haders zweiter Regiearbeit „Andrea lässt sich scheiden“: Die Landpolizistin aus Unterstinkenbrunn – den Ort gibt es wirklich in Niederösterreich – hat die Schnauze gestrichen voll vom Leben in der Provinz: Berufliche Langeweile, Chauvinisten und Rassisten verhageln ihr ständig die Laune. 

„Was feiert man eigentlich am Geburtstag?“, fragt der trottlige Kollege (Lars Schubert) Andrea anfangs. „Na, dass du nicht gestorben bist in diesem Jahr“, antwortet diese trocken – natürlich in schönstem, österreichischen Dialekt. Das sagt schon einiges über diese sehenswerte, schwarzhumorige Dramödie, die Hader gemeinsam mit Florian Kloibhofer verfasst hat. Tempo und Timing sitzen wieder perfekt – wie schon bei Haders Regiedebüt „Wilde Maus„. 

Aus dem gemeinsamen Haus mit ihrem Noch-Ehemann ist Andrea bereits ausgezogen, wohnt wieder bei ihrem dementen Vater, eine Stelle als Kriminalinspektorin in St. Pölten hat sie schon in Aussicht. Doch nach einer Geburtstagsfeier ihres Kollegen überfährt sie versehentlich ihren sturzbetrunkenen Ex. Da ihm nicht mehr zu helfen ist, begeht sie Fahrerflucht. Pech nur, dass Religionslehrer Franz Leitner, der nuanciert von Hader selbst gespielt wird, ein weiteres Mal über die Leiche fährt. Er glaubt nun schuldig zu sein. Bereitwillig will der trockene Alkoholiker seine Strafe annehmen. Während Andrea noch die Spuren ihrer Täterschaft beseitigt, melden sich deshalb bei ihr immer stärkere Gewissensbisse. Diese absurde Situation nimmt Hader zum Anlass tief in das Leben der Menschen in der Provinz einzutauchen. Bis in die kleinste Nebenfigur sind alle Rollen mit großartigen Darstellern besetzt, alle scheinen in bester Spiellaune: So verkörpert beispielsweise Robert Stadlober Andreas neuen, korrupten Vorgesetzten in St. Pölten und Maria Hofstätter eine tanzwütige Dame, mit der sich Franz in seiner Seelenpein in einer Schlager-Disco vergnügt. Kritisch, aber nie respektlos schaut Hader auf all diese verkrachten Existenzen. Ein unaufgeregtes Stimmungsbild des oft so verherrlichten Lebens auf dem Lande, kameratechnisch überaus treffend eingefangen von Carsten Thiele.

Von einer weiteren bemerkenswerten Frau handelt der Dokumentarfilm „Teaches of Peaches“ von Philipp Fussenegger und Judy Landkammer, der zu Recht den weltweit wichtigsten und ältesten queeren Filmpreis – den Teddy Award – gewann. Die kanadische Electroclash-und Punksängerin Peaches, die mit bürgerlichem Namen Merrill Nisker heißt, kämpfte bereits in den Neunzigern mit viel Witz und enormen Selbstbewusstsein gegen Weiblichkeitsstereotype an. „Fuck the Pain Away“, ein Slutwave-Stück, das Peaches 1999 als Support-Act in Toronto aufnahm, wurde vielfach zu einem der besten Songs der 2000er Jahre erklärt. Sofia Coppola nutzte ihn beispielsweise in einer Schlüsselszene in „Lost in Translation“.

Der Film zeigt spannendes, privates Archivmaterial, Szenen aus dem Tourleben der heute 57-jährigen, einen intimen Blick hinter die Kulissen, sowie Interviews mit Weggefährten. So sieht man die junge Peaches beispielsweise bei einem an Energie kaum zu übertreffenden, verschwitzten Auftritt gemeinsam mit Chilly Gonzales performen. Sängerin Shirley Manson stimmt Empowerungshymnen über ihre Kollegin an. Doch auch Peaches Lebensgefährte Ellison Glenn, bekannt als Musiker Black Cracker, kommt zu Wort. Die Doku läuft ab Mai regulär im Kino.

Leider gab es jedoch bei der Teddy-Award-Verleihung, wie auch bei der Belinale-Bärenvergabe, beschämende Solidarisierungsreden mit den Feinden Israels. Peaches, die sich selbst als „progressive jewish person“ bezeichnet, bat jedoch im Anschluss an die Preisverleihung noch einmal darum „einander weiterhin zuzuhören“.

Glücklicherweise gab es aber doch differenziertere Stimmen bei der Vorführung des Dokumentarfilms „No Other Land“, der neben dem Berlinale-Dokumentarfilmpreis auch den  Panorama-Publikumspreis in der Sparte Dokumentarfilm erhielt. Darin dokumentieren der israelische Journalist Yuval Abraham und der palästinensische Aktivist Basel Adra über einen langen Zeitraum, wie die israelische Armee versucht, eine palästinensische Gemeinde aus dem Westjordanland zu vertreiben.

Vor dem Zooplast demonstrierten indes Menschen für eine sichere Rückkehr der Geiseln – unter ihnen befindet sich übrigens auch der israelische Schauspieler David Cunio, der 2013 auf der Berlinale in dem Film „The Youth“ zu sehen war. Sektionssleiter Michael Stütz, als auch RBB-Intendantin Ulrike Demmer und Moderator Knut Elstermann wiesen ausdrücklich darauf hin, dass sie sich ein Leben in Frieden und Würde für alle Menschen dieser Region wünschen, man „aber nicht die furchtbaren Verbrechen, die die Hamas am 7. Oktober im Süden Israels verübt hat, relativieren dürfe.“

„Ich kümmere mich um diese Sache, weil sie in meinem Namen geschieht“, ist wiederum ein Schlüsselsatz in „No Other Land“, gesprochen von dem israelischen Journalisten Abraham. Gemeint ist die Vertreibung der kleinen Gemeinde Masafer Yatta im Süden des Westjordanlands. 1981 erklärte das israelische Militär das Gebiet zu ihrem Trainingsgelände und begann mit erschreckender Brutalität, Woche um Woche, Monat für Monat, Jahr um Jahr, die Häuser der Menschen abzureißen. Immer wieder wird gezeigt, wie die Palästinenser gerade noch die notwendigsten Habseligkeiten, aus ihrem Wohnhaus oder sogar der einzigen Schule zusammenraffen, ehe die gefräßigen Bulldozer gnadenlos zuschlagen. Die Palästinenser übernachten eine Zeitlang in Höhlen, beginnen dann wieder ihre Häuser aufzubauen. Eine Sisyphus-Arbeit. Immer wieder gibt es Proteste, Verletzte und Tote. 

Dem Film gelingt es die Hoffnungs- und Rechtelosigkeit dieser Menschen spürbar zu machen. Unverständlich jedoch, warum der Film, der im Oktober 2023 vollendet wurde, kaum auf das Massaker der Hamas eingeht. Man sieht lediglich wie jüdische Siedler sich deshalb rächen und eine Ortschaft überfallen. Solange beide Seiten nicht das Problem in seiner Komplexität betrachten, wird es unmöglich sein, auch nur ansatzweise eine Lösung für diesen festgefahrenen Konflikt zu finden. 

Zu hoffen ist auf jeden Fall, dass die Berlinale unter neuer Leitung im nächsten Jahr zu mehr politischer Ausgewogenheit zurückfindet und entschieden gegen Antisemitismus eintritt.

Foto (c) Bell Media Inc

In: Die Rheinpfalz von März 2024