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Odyssee eines Muttersöhnchens

Reise zum Inneren eines ödipalen Charakters: Ari Asters Albtraum-Komödie »Beau is Afraid«

Die Bürgersteige sind mit Müll übersät. Schmierige Straßenhändler verticken schwerste Waffen. Verstörende Schreie und Explosionen lassen einem die Haare zu Berge stehen. Ein nackter Serienmörder mit irrem Blick sticht am helllichten Tag wahllos Menschen ab. Eine hässliche Menschenmeute feuert einen zögerlichen Selbstmörder auf dem Dach eines Hochhauses an, sich hinunterzustürzen.

Genau so sieht das bürgerkriegsartige New York aus den Augen des hochgradig paranoiden Muttersöhnchens Beau Wasserman aus. Gespielt wird er von Joker-Darsteller Joaquin Phoenix, der für seine Darstellung des durchgeknallten Außenseiters 2020 zu Recht einen Oscar erhielt. Selbst Beaus Apartment ist nicht sicher: In dem schmuddeligen Flur hängt ein Schild, dass in dem Haus eine giftige Einsiedlerspinne gesichtet wurde. Nachts schiebt jemand Beau immer drastischere Drohbotschaften unter seiner Tür durch, da er angeblich höllischen Lärm verursache. Kurz darauf stampft eine Horde Obdachloser wie Zombies in seine Wohnung und verwüstet sie völlig, während Beau versucht, im Laden gegenüber eine Flasche Wasser zu kaufen.

Ari Asters neuester Film, für den er auch selbst das Drehbuch verfasst hat, führt uns dermaßen furios in die Welt seines mit Medikamenten vollgestopften Protagonisten ein, dass man im ersten Viertel des dreistündigen Horrortrips nicht weiß, ob man lachen oder sich unter seinem Kinosessel verstecken soll. Am Ende schmälert das den Wert des Werkes.

Während in den meisterhaften Vorgängerfilmen des erst 36 Jahre alten Regisseurs – »Hereditary – Das Vermächtnis« (2018) und »Midsommar« (2019) – der Horror ganz klassisch zunächst unter der Oberfläche schlummerte, ist er bei seiner »Albtraum-Komödie«, wie er seinen neuen Film selbst bezeichnet, von Anfang an präsent. Das führt jedoch leider immer wieder zu Ermüdungserscheinungen beim Publikum, obwohl sein Stammkameramann Pawel Pogorzelski ein Feuerwerk an visuellen Ideen abfeuert und auch Bobby Krlic gewohnt verstörende Musik abliefert.

Die Ursache für Beaus sich steigernde Panikattacken und Halluzinationen erfährt das Publikum bereits ganz zu Anfang, als der Mann um die 50 seinen Psychotherapeuten (Stephen McKinley Henderson) aufsucht, um sich mit ihm auf einen Besuch bei seiner Mutter Mona vorzubereiten. Rasch wird deutlich, dass diese höchst manipulative Frau ihn schwer traumatisiert hat. Ein einziges Telefongespräch, in dem Beau seiner Mutter (Patti LuPone) mitzuteilen versucht, dass er sich verspäten werde, da jemand den Schlüssel zu seiner Wohnung gestohlen hat, macht deutlich, was für ein Monster sie ist: Sie seufzt ein paar Mal tief, straft ihn mit eisigem Schweigen, bevor sie mit einem schnippischen »Du wirst schon das Richtige tun« einfach auflegt.

Kurz darauf findet sich Beau nach einem Unfall bei dem Chirurgen Roger (großartig: Nathan Lane) und seiner Frau Grace wieder, die ihn angefahren hat. Die beiden wollen ihn wieder aufpäppeln. Doch am Ende schickt ihn das unheimliche Ehepaar, das seinen Sohn im Krieg verloren hat, bloß auf den nächsten Horrortrip. Dabei spielen ein ehemaliger, vom Krieg schwer traumatisierter Kamerad des Sohnes, den das Paar bei sich aufgenommen hat, sowie die im Haushalt lebende schmählich vernachlässigte Teenager-Tochter eine nicht unwesentliche Rolle.

Schließlich gelingt Beau die Flucht, wenngleich der militante Veteran ihm dicht auf den Fersen ist. Beau landet bei einer im tiefsten Wald praktizierenden Theatertruppe. Enthält diese Sequenz einen Funken Realität, oder ist sie erneut bloß ein Spiegel von Beaus Unbewusstem? Plötzlich findet er sich auf einer animierten, höchst surrealen Bühne wieder, auf der die Essenz seines tragischen Lebens aufgeführt wird. Ein finsteres Märchen über Verlust und Isolation.

Doch wirklich mitfühlen mit dem Protagonisten kann man nur in den Flashback-Szenen: In einer verliebt sich der Teenager Beau (gespielt von Armen Nahapetian) bei einer Kreuzfahrt mit Mutti in ein Mädchen. Er verspricht ihm, auf sie zu warten. Zudem wird man Zeuge, wie sehr seine Mutter (nun Zoe Lister-Jones) ihren unschuldigen Sohn – »das größte Geschenk meines Lebens« – mit Horror-Geschichten über Beaus Vater und die Nacht seiner Zeugung traumatisiert hat.

Endlich im Elternhaus angekommen, muss sich Beau gegen Ende folgerichtig nicht nur seiner Mutter, sondern auch einem sprechenden Riesenpenis inklusive Hoden auf dem Dachboden stellen. Und den ersten Sex seines Lebens ausgerechnet zu Mariah Careys »Always Be My Baby« bestreiten. Man kommt aus dem irritierten Grinsen kaum mehr heraus, obwohl man doch eigentlich Mitleid mit ihm empfinden müsste.

Am Ende seiner Odyssee, die vermutlich zu großen Teilen in Beaus gequältem Geist stattgefunden hat, muss er sich einem kafkaesken Gericht mit seiner Mutter als Hauptanklägerin stellen. Es stellt die Schwere seiner Schuld fest. Obwohl auch diese Szene visuell spektakulär ist, fühlt man sich erleichtert, dass die anstrengende Reise zum Inneren eines ödipalen Charakters endlich vorbei ist.

Foto: (c) Leonine Studios

„Beau is Afraid“ in nd von Mai 2023