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Die Verunsicherung der Mittelschicht

Antonia Baum erzählt in ihrem Roman „Siegfried“ davon, wie der Blick der Eltern die nachfolgende Generation prägt

In Antonia Baums Roman „Siegfried“ wacht eine Frau eines Morgens auf und fährt in die Psychiatrie. Zuvor hat sie geträumt, dass ihr Stiefvater, der titelgebende Siegfried, gestorben ist. Der neue Roman der 1984 geborenen Journalistin, Schriftstellerin und Mutter Antonia Baum kreist um die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass die namenlose Ich-Erzählerin, Lebensgefährtin von Alex, Mutter einer vierjährigen Tochter und von Beruf Schriftstellerin, einfach nicht mehr weiter weiß.

Vieles liegt in ihrer Kindheit begründet, die Baum in Rückblenden Schicht um Schicht aufdeckt. Aufgewachsen ist sie zwischen Designermöbeln, deren Anschaffung die Kleinfamilie dem Stiefvater, der ein erfolgreicher Unternehmer ist, zu verdanken hatte. Doch gleichzeitig ist dieser Siegfried ein Patriarch alter Schule, ein Choleriker, der es nicht leiden konnte, wenn ihre Mutter das Haus nicht genug geputzt hatte, ein Mann, der ganz selbstverständlich Affären hatte, aber ihre Mutter krankenhausreif schlägt, als er begreift, dass sie sich in einen anderen verliebt hat.

In seiner himmelschreiend ignoranten Art gegenüber den Gefühlen seiner tieftraurigen Ehefrau erinnert Siegfried an den Ehemann in Daniela Dröschers sensationellem Roman „Lügen über meine Mutter“, der im letzten Jahr erschienen ist. Mit Dröscher teilt Baum auch den Bourdieuschen Ansatz, nachdem die soziale Herkunft eines Menschen maßgeblich seinen Habitus bestimmt.

So wird der Ich-Erzählerin mehr und mehr klar, wie sehr sie von ihrem Stiefvater aus der bürgerlichen Mitte geprägt wurde, wie sie „die Dinge durch seine Augen sah“, was besonders deutlich wird in den wenigen Szenen, in denen ihr Stiefvater Alex begegnet. Als der geschäftige Siegfried und Alex sich das erste Mal in einer Bar treffen und ihr Lebensgefährte sich nicht schnell genug entscheiden kann, was er trinken möchte, spürt sie das erste Mal „diese Wut auf ihn, die ihr so vertraut werden sollte.“

Aber die Ich-Erzählerin kann sich auch kaum von dem gnadenlosen Blick von Siegfrieds Mutter, die als junge Frau den Krieg miterlebt hat, frei machen. Bei ihr verbrachte sie als Kind viel Zeit, wenn die Eltern verreist waren. „Der Blick von Hilde ist durch tausend Männer gegangen…und mit diesem Blick wurde auf Alex geschaut (auch von mir.)“

So kann sie meist nicht anders, als ebenfalls unbarmherzig auf ihre Mitmenschen und ihren Partner Alex, den sie doch eigentlich liebt, zu schauen. In einem ihrer bewussten Momente fragt sie sich entsetzt, wie sie als Paar bloß dahin gekommen sind, „an diesen harten Ort“, an dem sie nicht mehr versuchen, einander zu verstehen.

Denn auch Alex hat seine Geschichte. Geboren kurz vor der Wende, aufgewachsen in einem engen Plattenbau. Alex‘ Eltern hatten sich „erschreckt …als die Mauer fiel“, bei ihnen ging es immer „nur um Angst…Das Höchste, was man erreichen konnte, war Sicherheit.“ Alex sind seine Eltern, die ihm „nie irgendetwas zum Leben hätten sagen können“, peinlich. Er möchte eigentlich an die Filmhochschule, schafft es aber einfach nicht, sich dafür zu bewerben. So jobbt er weiterhin als Barkeeper, bleibt seiner Schicht verhaftet und trägt zu wenig zum Familieneinkommen bei.

Immer wieder aber kehren die Gedanken der Ich-Erzählerin auch zu Hilde zurück, Siegfrieds exaltierte Mutter, die die Nibelungensagen liebt und ihren Sohn nach dem germanischen Drachentöter benannt hat. Betont ungerührt erzählt sie der Enkelin von ihren Kriegstraumata, sie verpasst ihr auch schon mal eine Ohrfeige, so wie sie auch ganz selbstverständlich ihren Sohn, den sie eigentlich vergöttert, immer wieder als Kind geschlagen hat. Ihr Ehemann, der im Krieg „Adler und Hakenkreuz“ trug und an Depressionen litt, hatte sich erhängt. An der Mutter der Erzählerin lässt sie kein gutes Haar, genau wie an allen anderen Frauen – die knospenden Brüste ihrer Enkelin betrachtet sie mit Argwohn. Auch diesen überkritischen, vom Patriarchat geprägten Blick auf ihr eigenes Geschlecht übernimmt die Erzählerin von ihr.

Kurz nachdem sie ihren Ehemann aus Eitelkeit mit ihrem Lektor betrogen hat, beichtet sie ihrem Mann alles brühwarm. Daraufhin erntet sie von ihm nur noch eisiges Schweigen, dass das Fass aus Mental Load, ihrer Schreibblockade und finanziellen Schwierigkeiten zum Überlaufen bringt.

Geschickt arbeitet Baum in ihrem hochaktuellen Roman, der in einer Zeit der großen Verunsicherung der Mittelschicht spielt, heraus, wie sehr der Blick der Eltern auf uns und andere uns geprägt hat, ihre Sicht auf die Welt, die immer noch von den Dämonen des Krieges umflort ist. Am Ende bleibt alles offen, man erfährt nicht, ob und wie sich die Kleinfamilie aus dem finanziellen und seelischen Schlamassel zu befreien weiß. Unbefriedigend für den Leser, aber leider wohl realistisch, angesichts der langen Halbwertzeit des grausamen Blicks unserer Vorfahren.

In: Rheinpfalz von April 2022

Foto (c) Urban Zintel