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Worte wie Medizin

Im US-Drama »The Whale« von Darren Aronofsky versucht ein extrem übergewichtiger Mann, sich mit seiner Tochter zu versöhnen

Ein unglaublich übergewichtiger Mann bekommt beim Onanieren zu einem Schwulenporno vor dem Laptop fast einen Herzinfarkt. Um nicht vollends zu kollabieren, lässt er sich von einem jungen Missionar, der zufällig vorbeischneit, einen Essay über Melvilles »Moby Dick« vorlesen. Sollte man sich allen Ernstes einen Film anschauen, der so beginnt? 

Unbedingt, denn der Regisseur heißt Darren Aronofsky. Er hat bereits im Jahr 2008 Mickey Rourke mit »The Wrestler« zu einem mitreißenden Comeback verholfen – und mit dem Ballettdrama »Black Swan« die Darstellung der Kasteiung des Körpers ein weiteres Mal auf die Spitze getrieben.

Lange, fast zehn Jahre, suchte er dieses Mal nach dem perfekten Hauptdarsteller für die Verfilmung des gefeierten Broadway-Stücks »The Whale« von Samuel D. Hunter aus dem Jahr 2012. Der Autor, der auch das Drehbuch zum Film verfasst hat, litt übrigens – wie fast die Hälfte seiner amerikanischen Mitbürger*innen – selbst unter Adipositas. Schließlich entdeckte Aronofsky die ideale Besetzung für den zutiefst menschlichen, fast 300 Kilo schweren Charlie: Brendan Fraser (»Die Mumie«), der für lange Jahre von der Bildfläche verschwunden war. Der Star aus den 90er und frühen 2000er Jahren warf Philip Berk, dem ehemaligen Präsidenten der Hollywood Foreign Press Association, die die Golden Globes organisiert, sexuellen Missbrauch vor. Dieser Vorfall stürzte den Darsteller, der zu der Zeit auf dem Höhepunkt seiner Karriere war, in Depressionen, zumal er den Eindruck hatte, er sei insgeheim auf eine »schwarze Liste« gesetzt worden.

Aronofsky aber bewies den richtigen Instinkt und bereitete dem ehemaligen Star mit der Rolle des selbstzerstörerischen, aber ausgesprochen mitfühlenden Charlie, den er im engen 4:3-Format – in fast ausschließlich einem Raum – in Szene setzte, die ideale Bühne für ein fulminantes Comeback. Dafür erntete Fraser in Cannes zu Recht stehende Ovationen und kürzlich einen Oscar. Beschränkt auf den einzigen Raum, in dem das klaustrophobisch-kammerspielartige Drama im Wesentlichen spielt, verborgen unter einem enormen, hinderlichen Fatsuit hat Fraser sehr wenig Handlungsspielraum. Doch allein mit seinen Augen, seiner Mimik und seiner Stimme gelingt es ihm, feinste Gefühlsnuancen zum Ausdruck zu bringen.

Als Zuschauer*in wird man so Zeug*in einer cinematographischen Reise, die den Balanceakt zwischen Ausschlachtung des Schicksals eines extrem fettleibigen Menschen und dem Erkunden der conditio humana bravourös hinbekommt. Am Ende wankt man als nicht mehr ganz derselbe Mensch aus dem Kino.

Nach seinem Beinahe-Herzinfarkt und nachdem ihm seine beste Freundin Liz, eine Krankenschwester – ebenfalls oscarwürdig verkörpert von Hong Chau –, einen tödlichen Blutdruck von 238:134 attestiert hat, ist dem esssüchtigen Charlie klar, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, um sich mit seiner 17-jährigen Tochter Ellie (furios: Sadie Sink aus »Stranger Things«) zu versöhnen. Wenigstens eine Sache in seinem Leben möchte er richtig gemacht haben!

Acht Jahre zuvor ließ er Ellie wegen eines Studenten, in den er sich unsterblich verliebt hatte, im Stich. Sein Geliebter brachte sich jedoch tragischerweise um, da ihn seine fanatisch religiösen Eltern aufgrund seiner sexuellen Orientierung verstießen.

Ellies Mutter Mary (ebenfalls großartig: Samantha Morton) unterband bislang jeglichen Kontakt zwischen Charlie und seiner Tochter, die sich früher sehr nahestanden. Die Begründung, die sie ihm in einer berührenden Szene gibt, wirkt allerdings ein wenig konstruiert: Sie habe nicht gewollt, dass er sehe, wie sie als Mutter versagt habe, denn ihre Teenagertochter sei ein böser Mensch geworden.

Diese kaltschnäuzige Ellie trifft nun auf einen Vater, der sich nur noch äußerst mühselig mit einer Gehhilfe fortbewegen kann und seine Wohnung nicht mehr verlässt. Sein Essen lässt sich der 272 Kilo schwere Mann, dessen Selbsthass sich in zwanghaften Fressattacken äußert, vom Lieferdienst stets einfach vor die Tür stellen. SFX- und Make-up-Künstler haben großartige Arbeit geleistet – man hat den Eindruck, Fraser habe sich zur Vorbereitung auf seine Rolle wirklich diese Kilos angefuttert.

Ellies Wut auf den Vater kennt keine Grenzen. Mit angewidertem Blick fragt sie Charlie bei ihrer ersten Begegnung, ob sie später auch einmal so fett werde wie er. Der gutmütige Charlie vermag sie zunächst nur zum Bleiben zu bewegen, indem er ihr Geld anbietet und verspricht, ihr bei ihren Schulschwierigkeiten zu helfen. Als ehemaliger Professor, der immer noch (mit ausgeschalteter Kamera) Online-Schreibkurse gibt und seinen Student*innen beizubringen versucht, radikal ehrlich zu schreiben, glaubt er nämlich felsenfest an das schriftstellerische Talent seiner Tochter: Von Ellie stammt der grundehrliche Essay über »Moby Dick«, den ihre Mutter ihm einmal gnädigerweise zukommen ließ – Worte, die für Charlie so etwas wie eine lebensrettende Medizin sind.

In Charlies Gesprächen mit Ellie, Liz, seiner Ex-Frau und dem jungen Missionar Thomas (Ty Simpkins), der Anhänger einer Sekte ist, die an den Weltuntergang glaubt, lernt man einen klugen Mann kennen, der zwar sich selbst aufgegeben hat, aber mitnichten bedauernswert ist. Durch seine Wahrhaftigkeit und seine berührende Menschlichkeit vermag er Gefühle in den Zuschauer*innen hervorzurufen, die in einer von allzu viel Gleichgültigkeit, Verlogenheit und Egoismus beherrschten Welt häufig nur noch ein Schattendasein fristen.

Charlie ist fest davon überzeugt, dass Menschen wundervoll und im Wesenskern gut sind, und diese Überzeugung möchte er unbedingt an seine Tochter weitergeben. Oder um es mit seinen eigenen, optimistischen Worten zu sagen: »Menschen können gar nicht anders, als sich um einander zu kümmern.«

Schade nur, dass Aronofsky mit dem pathetisch-orchestralen Score von Rob Simonsen und einem allzu theatralischen Ende ein bisschen zu dick aufgetragen hat – weniger wäre noch mehr gewesen.

The Whale in nd von April ’23