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Foto (c) Port au Prince 

Die Tücken des Systems

Wie soll man mit einem Kind umgehen, das durch alle Raster der Kinder- und Jugendhilfe fällt? Nora Fingscheidt Oscarkandidat „Systemsprenger“ gibt keine einfachen Antworten auf diese Frage, weckt aber tiefes Verständnis für derartige „Problemkinder“.

Wohngruppen, Pflegefamilie, Sonderschule und immer wieder auch die psychiatrische Klinik: Bernadette, die rigoros „Benni“ genannt werden will, hat all diese Institutionen schon durch. Das neunjährige Mädchen ist das, was man in der Jugendhilfe hinter vorgehaltener Hand einen „Systemsprenger“ nennt – ein Kind, das bereits durch alle Maschen der Kinderfürsorge gefallen ist. Mehrere Jahre hat Dokumentarfilmerin Nora Fingscheidt intensiv für ihr Spielfilmdebüt recherchiert, das bei der diesjährigen Berlinale einen Silbernen Bären erhielt und soeben von Deutschland für den Auslandsoscar nominiert wurde. Herausgekommen ist ein mitreißendes, unter die Haut gehendes Drama, das den Zuschauer in die Welt eines Mädchens zieht, das unter mangelndem Halt und fehlender Impulskontrolle leidet.

Gespielt wird diese vor Lebensenergie nur so strotzende Benni von der während der Dreharbeiten erst zehnjährigen Helena Zengel. Im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend verkörpert sie das innerlich zerrissene, verletzlich-aggressive Mädchen: Ruhige Phasen, in denen Bennis unermessliche Sehnsucht nach ihrer Mutter oder wenigstens irgendeiner anderen festen Bezugsperson deutlich wird, wechseln ab mit Phasen, in denen sie rot (oder vielmehr: pink) sieht, wie eine Berserkerin um sich schlägt, sich selbst und andere schwer verletzt oder ihre Erzieher mit Messern bedroht.

Meist rastet die engelsblonde Antiheldin mit der pinken Lieblingsjacke aus, wenn jemand sie ins Gesicht fasst – Folge eines frühkindlichen Gewalttraumas, wie man im Verlauf des Films erfährt. Dann färbt sich das ganze Bild pink, gefolgt von unscharfen, stakkatoartig geschnittenen Schlaglichtern auf ihr bisheriges Leben. Als Zuschauer kann man da den Grund für ihre grenzenlose Wut erahnen.

Bangen und Hoffen

Dabei hat Benni noch Glück, gibt es in ihrem Leben doch – neben all den wechselnden Erziehern, deren Namen sie sich nicht mehr merken mag – auch Menschen innerhalb des Systems, die konstant um sie bemüht sind. Die Sozialarbeiterin Frau Banafé (großartig: Gabriela Maria Schmeide) kümmert sich rührend um das Mädchen und versucht stets, Benni noch irgendwo unterzubringen, obwohl immer weniger Institutionen sich das zutrauen. Ebenso bemüht sich die Ärztin in der Kinderpsychiatrie, wo Benni in unheimlicher Regelmäßigkeit landet, dem wilden Kind zu helfen.

Auch Micha (toll: Albrecht Schuch), ihr neuer Schulbegleiter und ausgebildeter Gewalttrainer, der normalerweise mit straffälligen Jugendlichen arbeitet, begegnet Benni mit echter Empathie. Er geht das Wagnis ein, mit dem unberechenbaren Mädchen drei Wochen allein in seiner Waldhütte zu verbringen, damit sie zur Ruhe kommt.

Kameramann Yunus Roy Imer findet auch hier wieder Bilder, die den Zuschauer die Gefühlswelt Bennis hautnah miterleben lassen. Doch auch da wird in einer herzzerreißenden Szene, in der Benni im Wald lautstark nach ihrer Mutter ruft, überdeutlich, dass sie eigentlich nur eins möchte: zurück zu ihrer labilen Mutter Bianca (Lisa Hagmeister), die ihre Tochter zwar liebt, aber nicht mit ihr zurechtkommt. Dennoch verspricht sie ihr fatalerweise immer wieder, sie demnächst aus dem Heim zu holen, nur um im letzten Moment einen Rückzieher zu machen.

So folgt auf jede Szene mit einem Fünkchen Hoffnung ein Rückschlag – Gefühle, die man als Zuschauer dieses überaus faszinierenden Films aushalten muss, um einen differenzierten Einblick in die Tücken des Systems zu bekommen. Was dem sensiblen Mädchen fehlt, ist Halt, ist eine feste Bezugsperson. Doch das gibt das überlastete System nicht her – im Gegenteil. Menschen wie Gewalttrainer Micha, der das Mädchen zu nah an sich heranlässt und Rettungsphantasien entwickelt, sehen sich gezwungen, den „Fall“ wieder abzugeben, da sie sich nicht mehr „professionell“ verhalten können. Mit fatalen Auswirkungen auf Benni, deren Gebaren nicht nur ein einziger markerschütternder Schrei nach emotionalem Halt ist, sondern auch die Schwachstellen des Systems bloßlegt.

Ob ein derart schwieriger Film auch die Academy in Los Angeles überzeugt, bleibt abzuwarten. Am 13. Januar werden die fünf für den Auslandsoscar nominierten Filme bekannt gegeben, verliehen wird der wichtigste Filmpreis der Welt am 9. Februar.

msn / Sept 2019