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Foto (c) 2018 Alamode

Jenseits von Tinder-wisch-und-weg

«303», der neue Film des sympathischen Antikapitalisten Hans Weingartner, ist eine charmante Liebesgeschichte.

Darwin wurde von den Kapitalisten instrumentalisiert«, behauptet die Biologiestudentin Jule in »303«, dem neuen Film des sympathischen Antikapitalisten Hans Weingartner, der schon seinerzeit, zur Cannes-Premiere seines mehrfach ausgezeichneten Films »Die fetten Jahre sind vorbei«, mit einem klapprigen Schrottmobil vorfuhr. High Heels trug er damals bestimmt auch nicht.

Nun schicken Weingartner und seine Co-Autorin Silke Eggert das titelgebende Wohnmobil, einen alten, geräumigen Daimler, zusammen mit zwei streitbaren Studenten von heute auf einen dialoglastigen Roadtrip gen Süden. Ganz nebenbei entwickelt sich eine zögerliche, charmante Liebesgeschichte – jenseits von Tinder-wisch-und-weg – zwischen den beiden, die den Vergleich mit der großartigen »Before…«-Trilogie von Richard Linklater nicht scheuen muss. Weingartner scheint gut aufgepasst zu haben, als er 1995 am Set seines Regie-Vorbilds als Produktionsassistent mitwirkte. Sein ungewöhnlicher, mit geringem Budget produzierter Film, von dem einer der Geldgeber, ein ängstlicher Sender, 2013 in letzter Minute absprang, eröffnete fünf Jahre später die Berlinale in der Sektion Generation 14plus.

In Parallelmontagen lernt man zunächst Jan und Jule kennen – ein weiteres Paar im Weingartner’schen Filmkosmos, das eine kritische Haltung gegenüber der kapitalistischen Gesellschaft einnimmt, in der das Streben nach Geld, Macht und Karriere alles zu kontaminieren scheint.

Jule (Mala Emde) ist 24 und verhaut zu Beginn ihre Biochemie-Prüfung. Außerdem ist sie ungewollt schwanger von ihrem Freund Alex, der in Portugal seine Doktorarbeit schreibt. Der gleichaltrige Politikstudent Jan (Anton Spieker) dagegen hat soeben erfahren, dass er das dringend benötigte Stipendium der konservativen Konrad-Adenauer-Stiftung nicht bekommt, weil er zu vehement seine Meinung vertreten hat. Spontan beschließt er, seinen leiblichen Vater in Spanien zu überraschen, von dem er erst vor Kurzem erfahren hat.

Als ihn seine Mitfahrgelegenheit versetzt, landet er im Wohnmobil von Jule. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten merken die beiden grundverschiedenen Persönlichkeiten, dass sie gerne miteinander debattieren, weswegen sie beschließen, die ganze Strecke zusammen zu bestreiten. Die nächsten 120 Minuten des mit zweieinhalb Stunden ein wenig zu lang geratenen Films reden sie sich die Köpfe heiß über Themen wie die »Vereinzelungsstrategie des Kapitalismus«, ob Menschen Konkurrenz oder Kooperation antreibt und ob Ötzi seine Axt zum Bäumefällen oder zum Töten benutzte.

Zuschauer fortgeschrittenen Alters schöpfen Hoffnung, dass junge Menschen sich in ihrer Abwesenheit womöglich noch über andere Dinge als ihre Bitcoin-Aktien und die nicesten YouTuber unterhalten.

Schließlich hat Weingartner seit 1997 eine Art Dialog-Tagebuch geführt und es in vielen Video-Interviews mit jungen Leuten noch einmal upgedatet. Beeindruckend ist, wie die jungen Schauspieler die lang geprobten und überhaupt nicht improvisierten Dialoge verlebendigen.

Die beobachtende Kamera verstärkt noch den Eindruck, man fahre selbst mit in dieser Zeitmaschine auf vier Rädern. Man meint fast den Geruch von Jules und Jans T-Shirt wahrzunehmen, an dem die beiden unabhängig voneinander heimlich schnüffeln, um ihre vorher heiß diskutierte These zu überprüfen, ob ausschließlich Pheromone die Partnerwahl bestimmen.

So geht der durch den Existenzkampf 2.0 gebeutelte Zuschauer beschwingt aus diesem herrlich entschleunigten Film, dem ein passendes Motto aus Rilkes Schmargendorfer Tagebuch vorangestellt ist: »Dieses ist das erste Vorgefühl des Ewigen: Zeit haben zur Liebe.«

„303“ in nd von Juli 2018