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Pures Adrenalin
Die meisten Kinozuschauer können sich sicher noch daran erinnern, wie es war, atemlos-jung, radikal und unvernünftig-solidarisch zu sein. Andere stecken vielleicht gerade in dieser besonderen Lebensphase. Sie alle strömen hoffentlich in großer Zahl in Sebastian Schippers mitreißenden Film „Victoria“, der in diesem Jahr auf der Berlinale seine umjubelte Premiere feierte. Schipper („Absolute Giganten“) wagte in einem einzigen Take ein filmisches Experiment, das ihm so schnell keiner nachmacht – und gewann auf ganzer Linie: Kameramann Sturla Brandth Grøvlen („Um jeden Preis“) erhielt für seine beeindruckende Leistung den Silbernen Kamerabären. Ein atemberaubender Film, der den Zuschauer in Echtzeit Anteil an dem Lebensgefühl junger Leute heute nehmen lässt.
Schippers Coming-of-Age-Drama und Berlin-Thriller beruht auf einem nur zwölfseitigen Drehbuch, spielt an 22 wechselnden Drehorten in Berlin-Kreuzberg, und wurde in nur einer wahnwitzigen Plansequenz gedreht. Drei Takes an der Zahl zogen seine bewundernswerten jungen Darsteller durch, der letzte saß.
Der Zuschauer begegnet der titelgebenden jungen Spanierin Victoria (famos in ihrer ersten Hauptrolle: Laia Costa), die sich seit drei Monaten in Berlin durchschlägt, zum ersten Mal in einem Technoclub. Die Kamera fokussiert im Stroboskoplicht mehr und mehr die ein wenig verloren wirkende junge Frau. Sie baggert den Barmann an, er lässt sie abblitzen.
Doch beim Verlassen des Clubs lernt sie vier „echter Berliner Jungs“ kennen, die machohaft-charmant um sie herumschwarwenzeln. Einer von ihnen trägt den Spitznamen Sonne (Frederick Lau) und hat es Victoria besonders angetan. Das Knistern zwischen ihnen wird rasch spürbar, und so folgt sie den Englisch radebrechenden Außenseitern zum Chillen auf ein Hausdach. Hier lässt die Kamera die ungeheuer authentisch wirkenden Protagonisten Sonne, Boxer (Franz Rogowski), Fuss (Max Mauff) und Blinker (Burak Yigit) sowie den mitfiebernden Zuschauer erst einmal zur Ruhe kommen.
Diese retardierenden Momente gönnt sich der meisterhaft inszenierte Film immer wieder, sie stehen in krassem Gegensatz zu Szenen, in denen Kameramann Sturla den ungestümen Outsidern heldenhaft hinterherhetzt – denn die fünf geraten wenig später gemeinsam in einen Banküberfall. Diese Entwicklung deutet sich bereits in einer Szene in einem Biocafé an, in dem die schmerzlich gescheiterte Konzertpianistin Victoria für einen unterirdischen Lohn jobbt.
Virtuos spielt das geheimnisvolle und doch auch so berührend durchschnittliche Mädchen für Sonne auf dem caféeigenen Klavier Liszts Mephisto-Walzer. Nicht nur gehört dieser Filmmoment zu den schönsten Liebesszenen der letzten Jahre, und lässt zuweilen gar an Belmondo und Seberg in „Atemlos“ denken. Auch deutet sich darin bereits an, dass die zarte Liebesgeschichte der beiden in einer absoluten Katastrophe enden wird. Sonnes Kumpel Boxer hat nämlich eine Zeit lang im Gefängnis gesessen und muss seine Schuld gegenüber einem karikaturhaft wirkenden Gangsterboss (Andrè Hennicke) begleichen. Da der stockbesoffene Fuss als Fahrer ausfällt, springt die in ihrem Leben schon so jung gescheiterte Victoria kurzentschlossen ein.
Mit seiner Entscheidung, den Film in nur einem Take zu drehen, riskiert Schipper alles und gewinnt viel: Sie intensiviert das Spiel seiner jungen Darsteller derart, dass der diesem radikalen Film völlig ausgelieferte Zuschauer mit purem Adrenalin in den Adern aus einem Jungbrunnen von einem Kinoerlebnis heraustaumelt.
Radio Erft / Juni 2015