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Warten auf die Sonne

Caroline Wahls Romandebüt „22 Bahnen“ berührt die Herzen. Sie erzählt von einem Familienleben, in dem nichts in Ordnung ist, von Liebe und Fürsorge. Und das in einem ganz eigenen Ton.

„Karotten, Kirschtomaten, Champignons, Äpfel, Vollmilch, Vollmilch, Toppas, Lion Cereals, Vollkorntoast, Reis, Honig, Paula Schokopudding mit Vanilleflecken, Geo Mini“ sind nur einige der Sachen, die ein Kunde bei Tilda einkauft. Die Studentin, die sich mit einem Job an der Supermarktkasse durchschlägt und sich nur Billigprodukte leisten kann, vertreibt sich die Monotonie ihrer Arbeit damit, dass sie ihre Kunden zunächst nicht anschaut und versucht zu erraten, wer diese Dinge aufs Band gelegt hat. Oft liegt Tilda richtig – in diesem Fall handelt es sich um eine junge Mutter, die mit ihrem Sohn einkauft. „Wenn der wüßte, was er für ein Glück hat“, denkt die Kassiererin.

Denn Tilda und ihre erst fünfjährige Schwester Ida haben alles andere als Glück, was ihre Familiensituation angeht: Ihre Mutter ist alkoholkrank, die Väter fehlen, das Geld ist knapp. So muss sich Tilda also nicht nur um Studium und Job, sondern auch um ihre kleine Schwester kümmern. Und stets ein Auge auf die Mutter haben, die immer mal wieder in depressive Phasen verfällt oder sogar gewalttätig wird und Ida oder sich selbst verletzt. So gilt es, Tag für Tag die unberechenbare Mutter genaustens zu beobachten, um womöglich zu erahnen, wie sie sich demnächst verhalten wird.

Der einzige Freiraum, der Tilda bleibt, ist das örtliche Freibad, wo sie täglich ihre titelgebenden „22 Bahnen“ zieht, um mal kurz den Kopf freizubekommen. Ihre eigenwillige, kleine Schwester, die den Wutattacken ihrer Mutter häufig hilflos ausgeliefert ist, kommt auch manchmal mit – aber nur wenn es nieselt.

Mit erstaunlicher Leichtigkeit, einem ganz eigenen, nüchternen Ton und ohne die Thematik der alkoholkranken Mutter sensationslüstern auszuschlachten, berichtet die Mainzerin Caroline Wahl aus der Sicht der Ich-Erzählerin Tilda von zwei Schwestern, denen es gelingt, ihren widrigen Lebensumständen etwas entgegenzusetzen.

Seit vielen Wochen hält sich der Debütroman der 28-jährigen, die selbst aus normalen Familienverhältnissen kommt, zu Recht auf der Bestsellerlisten und wurde bereits mehrfach prämiert. Man liest dieses gut komponierte Buch wie im Schwimmrausch, wenn das Gedankenkarussell sich endlich einmal beruhigt hat.

Denn obwohl die beiden Schwestern keine intakte „Abendbrot Tisch Familie“ sind und Tildas Freunde längst weggezogen sind, ist nicht alles ist schlecht in ihrem Leben. Schließlich haben die Schwestern einander, und Tilda arbeitet gerade an ihrem Masterabschluss in Mathematik. Ida wiederum findet Trost und Zuflucht in Büchern und der Malerei. Täglich malt sie Märchen, in denen sie „immer den Moment der Erlösung“ festhält, wie es ihrer Schwester in einem klarsichtigen Moment einmal auffällt.

Und dann taucht auch noch Viktor in Tildas Leben auf. Genau wie sie zieht der junge Mann aus ehemals prekären Verhältnissen regelmäßig seine 22 Bahnen in dem örtlichen Schwimmbad. Seine Familie ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen und Tilda war früher mit seinem jüngeren Bruder Ivan befreundet, den sie immer noch vermisst.

Die großartigen Dialoge zwischen diesen beiden jungen Menschen, die schon viel Leid erfahren haben und gewohnt sind, vieles mit sich selbst ausmachen, sind knapp und kurz gehalten. Denn eigentlich ist kein Platz für Liebe in ihrem Leben. „Immer wenn die sonne eigentlich nicht da ist, liegst du in diesem Schwimmring?“ fragt Viktor Tilda einmal. „Wegen dieser Momente, wenn die Sonne sich zeigt. Ein weitere Lichtblick ist, dass ihr Professor Tilda für eine Doktorandenstelle in Berlin empfehlen  möchte. Doch kann sie Ida in absehbarer Zeit mit der Mutter allein lassen?

„22 Bahnen“ ist ein zeitgemäßer Coming-of-Age-Roman, der an Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ erinnert und das Potential hat, auch Jugendliche zu begeistern. Wunderbar, dass in diesem Fall zwei resiliente, weibliche Figuren, die Hauptpersonen sind. Nicht zuletzt durch ihren Bildungshunger reifen sie zu starken Persönlichkeiten heran. Unbedingt auch als Schullektüre zu empfehlen.

Foto (c) Stefan Klüter

In: Die Rheinpfalz / Nov. ’23