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Die dunklen Stellen unserer Herzen
„Es gibt uns viel Freiheit“, sagt ausgerechnet ein Gefängnisinsasse des San Quentin Prison in San Francisco, der im Knast zum ersten Mal mit dem gemeinschaftlichen Singen von Mantras, dem sogenannten Kirtan-Singen, in Berührung gekommen ist. Der durch eine Crowd-Funding-Kampagne finanzierte Dokumentarfilm „Mantra – Sounds into Silence“ von Georgia Wyss und dem renommierten Yoga-Fotografen Wari Om ist kein reiner Film für Esoteriker, sondern versucht einem breiten Publikum die heilende Wirkung des sogenannten „Chantens“ näher zu bringen. Dabei geht es um Spiritualität – nicht um Religion. Viele der in der Doku bei Live-Auftritten gefilmten Mantra-Stars sind extrem erfolgreich – Jai Uttal, der im besagten Gefängnis ein kostenloses Konzert gab, war bereits für drei Grammys nominiert.
Die beiden Silben des Wortes „Mantra“ bedeuten „Geist“ („man“) und „Instrument“ („tra“) – das tranceartige Singen soll helfen, den Geist zur Ruhe kommen zu lassen. Dies wird im Film, in dem auch der Neurowissenschaftler Andrew Neberg zu Wort kommt, sogar wissenschaftlich belegt. Neberg befasste sich in seinen Forschungen viel mit meditierenden Menschen und zeigt anhand von Gehirnscans, wie sich bei Menschen, die dies regelmäßig praktizieren, das Gehirn verändert: Andere Bereiche als die der Logik werden aktiviert und schaffen somit Vertrauen für etwas „Größeres“.
Beim gemeinsamen Kirtan-Singen, das seinen Ursprung in Indien hat, werden Mantras gebetsmühlenartig wiederholt – in einem harmonischen Wechsel zwischen dem Kirtan-Vorsinger und seinen Zuhörern. Die beiden Regisseure befragen im Film sowohl Szenestars wie Deva Premal & Milten, Krishna Das, Jai Uttal und Dave Stringer zu ihren Erfahrungen mit dem Mantrasingen, als auch ihre Zuhörer. Dabei handelt es sich glücklicherweise nicht nur um verstrahlt wirkende Hardcore-Esoteriker, sondern auch um eine amerikanische Kunsthändlerin, die zutiefst verzweifelt auf der Suche nach etwas war, was ihrem Leben einen Sinn gibt – und berührend von ihren Erfahrungen berichtet.
Ebenso gestehen Stars wie MC Yogi, der Hiphop mit Mantra-Gesang vermengt, in recht zu Herzen gehenden Interviews, wie die uralte indische Tradition ihnen hilft, mit dem modernen, schnelllebigen Leben zurechtzukommen. Auch der früher kokainabhängige Szenestar Krishna Das bekennt, dass er wahrscheinlich ohne das Chanten nicht mehr am Leben wäre. „Als ich mit Anderen zu singen begann, wurde mir klar, dass es mir nur so gelingen würde, die dunklen Stellen meines Herzens zu berühren“, bekennt er freimütig im Verlaufe des mitunter jedoch etwas zu oberflächlich geratenen Films.
Ein wenig befremdlich für den durchschnittlichen Kinozuschauer, der keine Erfahrung mit dem gemeinschaftlichen, ekstatischen Singen hat, wirken die bei Konzerten in Moskau und Korfu gefilmten Fans, denen die Tränen über die Wangen laufen – zumal man sich fragt, ob sie die indischen Worte, die sie da singen, überhaupt verstehen. Das vierköpfige Kamerateam hat die Zuschauer jedoch äußerst einfühlsam bei ihrem intimen Gemeinschaftserlebnis gefilmt.
Und so bekommt man auch als ein wenig irritierter Zuschauer einen Kloß im Hals, wenn es die schweren Jungs aus San Francisco bei dem Gefängniskonzert von Jai Uttal ganz allmählich von den Stühlen reißt und sie lachend und befreit zu tanzen beginnen.
Mittelbayerische / Mai 2018