Foto: dpa / www.jeaniefinlay.com/Jeanie Finlay 2011
Vinyl bis ins Grab
Die anrührende Dokumentation »Sound it Out« porträtiert einen Plattenladen, der für manche seiner Kunden der Mittelpunkt ihres Lebens ist.
Wir befinden uns im Jahre 2011. Der ganze Nordosten Englands ist von Musikstores, Online-Riesen und Musikdownloadern besetzt … Ganz Nordostengland? Nein! Ein von unbeugsamen Musikliebhabern bevölkertes Dorf hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten …
In einem ähnlich vergnügt-renitenten Geist wie unsere Lieblingsgallier erzählt der Film »Sound it Out« von dem gleichnamigen Plattenlädchen in dem Kaff Stockton-on-Tees. In diesem von 84 000 Seelen bevölkerten ehemaligen Industriestädtchen wuchs die Regisseurin Jeanie Finley auf, die ihre Liebe zur Musik diesem Plattenladen, der irgendwo zwischen Kneipe und Arbeitsamt liegt, verdankt. Der Laden »Sound it Out« ist zum letzten Zufluchtsort wunderbar schräger Typen geworden – vom Status-Quo-Megafan über den britisch-selbstironischen alten Herren, der die Musik der Sechziger, Siebziger und Achtziger liebt, bis hin zu zwei jugendlichen Metalliebhabern, für die ihre Musik schlichtweg lebenswichtig ist.
Herz der analogen Begegnungsstätte »Soundit Out« ist Tom Butchart, der Mann mit dem schier unerschöpflichen Musikwissen, mit dem die Regisseurin Jeanie Finlay zur Schule gegangen ist. Als sie, um ihre Hochzeit zu finanzieren, ihre Plattensammlung an Tom verkaufen wollte, war dieser schockiert. Und er sagt auch, warum: »Bei Platten geht’s um Gefühle und Erinnerungen. Bei jeder Platte, die ich auflege, weiß ich genau, wo ich war, mit wem ich zusammen war. Es hat alles mit Erinnerungen zu tun. Platten bewahren Erinnerungen.« Ob man je ähnlich emphatisch von in Internet-Clouds herumgeisternder Musik sprechen wird? Für Tom jedenfalls ist die Sache klar: »Ich bin süchtig nach Platten, weil ich süchtig nach Musik bin.« Musik ist für ihn etwas zum Anfassen und Ins-Regal-Stellen. Das Angebot an schwarz gepressten Erinnerungen bei »Sound it Out« umfasst »nach letzter Zählung« um die 50 000 Scheiben.
Hauptpersonen dieses Porträts eines untergehenden Zeitalters sind die zurückhaltenden Vinyl-Verteidiger, die die Musikliebhaberin und Regisseurin Finlay zum Teil bis nach Hause begleitet, um sich von ihnen die Plattensammlung zeigen zu lassen.
Da wären zum Beispiel Sam und Gareth, die sensibelsten Metal-Freaks, die je auf der Leinwand zu sehen waren. Jede freie Sekunde des Tages hören sie Musik, und zwar »alles, was Krach macht und mit dem Wort Metal zu tun hat«. Gareth hat seine Kutte sorgfältig mit dem Namenszug der Band »PissChrist« bedruckt und behauptet, die Musik der Band Skindred – und natürlich sein Freund Sam – habe ihm das Leben gerettet. Ebenso wie das DJ-Team Franky und John-Boy kann Gareth sich nicht vorstellen, das Städtchen mit der hohen Arbeitslosigkeit zu verlassen, da er sich dort »irgendwie sicher« fühle. Dennoch würden DJ Franky und MC John-Boy natürlich sofort jeden Job annehmen – bis dahin aber hält sie die Musik von der Straße und von Schwierigkeiten fern. Auch sie schätzen die persönliche Atmosphäre in Toms Laden, in dem überall handgeschriebene kleine Pappschilder angebracht sind. Es gibt an diesem verwunschenen Ort sogar noch die Möglichkeit, sich Platten zurückstellen zu lassen, bis man wieder Geld hat.
Die Dokumentation funktioniert so wunderbar, weil Finlay es schafft, die Menschen in dieser letzten Zufluchtsstätte als das vorzustellen, was sie sind, nämlich interessante Erdenbürger, die die Liebe zur Musik eint – und keine zu belächelnden, durchgeknallten Freaks. Deutlich wird das auch an Shane, einem von Toms treuesten Kunden, der ausgiebig interviewt wird. Da Shane an Epilepsie und einem leichten Wasserkopf leidet, musste er eine Sonderschule besuchen. Toms Laden ist für ihn einer der wenigen Orte, wo ihm die Menschen vorurteilsfrei begegnen. Der erklärte Status-Quo-Fan will im Todesfall ganz ernsthaft seine Plattensammlung einschmelzen lassen, um sich in einem Vinyl-Sarg beerdigen zu lassen, da er eigentlich niemandem zutraut, mit seiner Sammlung respektvoll umzugehen.
Teil dieser Vinyl-Gemeinschaft ist auch der Buchprüfer Chris, der seit 20 Jahren die Lücken in seiner Plattensammlung zu schließen sucht. Seinem Wesen gemäß hinterlegt er jeden Monatsanfang bei Tom 100 Pfund als »Plattenbudget«. Seine Schallplatten sortiert der pedantische Plattensammler alphabetisch nach Künstlern und die Alben der einzelnen Musiker dann noch einmal chronologisch.
Man möchte sich nicht vorstellen, was für einen sozialen Kollateralschaden das digitale Zeitalter bereits angerichtet hat und weiterhin anrichten wird, wenn sich all diese zurückhaltenden, sympathischen Menschen ihre Musik nur noch virtuell besorgen und einander kaum mehr begegnen – außer vielleicht in Chatforen.
»Was man auch sucht, hier findet man es«, bemerkt einer der älteren Stammkunden einmal. Selbst die jungen Leute werden in Toms großzügig bestückten Laden fündig. Der Plattenladenbesitzer sorgt dafür, dass immer ausreichend Makina (nach Toms Worten eine schreckliche, kindische Trance-Musik) in seinen Regalen steht, obwohl er diese »Jongliermusik« nicht ausstehen kann. Aber Tom und sein Gehilfe David, den der Chef vor der Arbeitslosigkeit bewahrt hat und dem er einen großartigen – weil durchmischten – Musikgeschmack attestiert, lieben trotzdem ihren Job. Und die Leute, die in den Laden kommen, und natürlich das Musikhören und -sammeln. Dieser anrührende Film erzählt lediglich die Geschichte eines kleinen Plattenladens in Stockton-on-Tees. Aber er tut es auf eine Weise, dass man sich plötzlich überdeutlich daran erinnert, was Rock- und Popmusik Menschen bedeuten kann. Toms Plattenladen ist nach eigener Aussage »ein Ort, an den die Leute gehen, um eine Stunde ihrem Leben zu entfliehen. Dafür wird es immer einen Markt geben.« Möge er Recht behalten, beim Teutates!