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Im Maul des Löwen

Steven Spielberg erzählt in seinem semiautobiografischen Drama »The Fabelmans«, wie er als Kind seine Leidenschaft fürs Kino entdeckte

Filme sind Träume, die du niemals vergisst«, sagt Mitzi Fabelman zu ihrem sechsjährigen Sohn Sammy 1952 vor einem Kinopalast in New Jersey. »Aber Träume sind unheimlich«, antwortet der junge Spielberg, Verzeihung, Fabelman, mit weit aufgerissenen Augen – lässt sich aber dann doch überreden, mit seinen Eltern Cecil B. DeMilles »Die größte Schau der Welt« anzusehen. Darin gibt es eine Szene, in der zwei Züge zusammenstoßen.

Dieses traumatische Kinoerlebnis wird Steven Spielbergs Alter Ego Sammy für immer verändern. Fortan träumt er immer wieder davon – und stellt mit seiner Spielzeugeisenbahn das Zugunglück nach. Seine feinfühlige, von Michelle Williams (“Alles Geld der Welt“) oscarverdächtig gespielte Mutter, eine ehemalige Konzertpianistin, schenkt ihrem Sohn daraufhin eine 8-mm-Kamera, damit er die Szene aufnehmen und sie sich immer wieder anschauen kann. So lernt Sammy, dass er mit der Kamera Ängste verarbeiten und kontrollieren kann, eine Lektion, die er nie mehr vergisst. Gemeinsam mit weiteren Erkenntnissen über die Macht des Kinos, die er bereits in jungen Jahren gewinnt, hat dies Sammy/Steven zu dem gemacht, was er heute ist: einer der erfolgreichsten Regisseure aller Zeiten, der kürzlich auf der Berlinale den Ehrenbären für sein Lebenswerk erhielt, Schöpfer von Filmen wie »Der Weiße Hai«, »E. T.«, »Jurassic Park«, »Indiana Jones« und »Schindlers Liste«.

Nun hat der mittlerweile 76-jährige Spielberg sich entschlossen, mit seinem semiautobiografischen Drama »The Fabelmans« seinen Mythos in die eigene Hand zu nehmen, wie es so einige Regisseure in den letzten Jahren ebenfalls getan haben – beispielsweise Pedro Almodóvar mit »Leid und Herrlichkeit«, Kenneth Branagh mit »Belfast«, Paul Thomas Anderson mit »Licorice Pizza« oder Alfonso Cuarón mit »Roma«.

Sammy legt die Kamera fortan nicht mehr aus der Hand: So dreht er mit seinen drei Schwestern – von denen man gern mehr erfahren hätte – unter anderem einen Super-8-Horrorfilm mit lebenden Mumien, was zu einem Klopapier-Notstand im Hause Fabelman führt.

Später, als Teenager, produziert er, nachdem er 1962 im Kino John Fords Western »The Man Who Shot Liberty Valance« gesehen hat, mit seinen Pfadfinderfreunden einen Western, bei dem er das gedrehte Material so pfiffig verfremdet, bis das Mündungsfeuer bei den Schießereien täuschend echt aussieht. Inzwischen wird er großartig von Gabriel LaBelle verkörpert und möchte Sam genannt werden. Danach dreht der junge Fabelman das Zweite-Weltkrieg-Drama »Escape to Nowhere«, an dem insbesondere sein Regietalent reifen kann.

Immer wieder dreht er auch Familienfilme, in denen meist seine recht exzentrische Mutter, die für die Familie ihre künstlerische Karriere aufgab, im Mittelpunkt steht. Sie ist eine Frau, die auch schon mal ihre Kinder ins Auto verfrachtet und einem Tornado hinterherrast, einfach weil sie der Anblick fasziniert. Oder die sich einen Affen kauft, damit sie was zu lachen hat. Sie schaut sich mit kindlich weit aufgerissenen Augen Sammys frühe Kurzfilme an. Kinobilder, die man so schnell nicht wieder vergisst.

Sammys Vater Burt (Paul Dano) dagegen, ein grundsolider, karriereorientierter Computerpionier, der Sammys filmische Ambitionen für bloße Spielerei hält, kann mit ihrer Impulsivität nicht mithalten. Aber zu ihrer Sippe gehört auch noch Burts bester Freund »Onkel Bennie« (Seth Rogen).

Als die Fabelmans nach einem berufsbedingten Umzug nach Phoenix gemeinsam mit ihrem Hausfreund einen Camping-Trip unternehmen, der von Sam wieder auf Zelluloid gebannt wird, macht der Teenager beim Schnitt eine Entdeckung, die ihn in eine tiefe Krise stürzt – und ihn eine weitere, zunächst bittere Lektion über das Filmemachen lehrt: Er sieht die Blicke, die Mitzi und Bennie einander zuwerfen, und begreift, dass die beiden ineinander verliebt sind. Filme können eben nicht nur magische Welten erschaffen, sondern auch Geheimnisse und schmerzliche Wahrheiten ans Licht bringen.

Für eine Weile will Sam deshalb seine Kamera nicht mehr anrühren. Doch nach ihrem erneuten Umzug nach Kalifornien – ohne Burt – wird er als einziger jüdischer Junge weit und breit von zwei fiesen, körperlich weit überlegenen Jungs auf seiner Schule tyrannisiert. Deshalb entschließt sich Sam, doch wieder im Filmemachen Zuflucht zu suchen, und dreht einen Streifen über den »Ditch Day« seiner Highschool. In diesem Film inszeniert er seinen Widersacher Logan einfach als Helden. Nach der Premiere jubeln Sams Mitschüler*innen, doch Logan ist zutiefst verunsichert: Es ist schließlich alles andere als leicht zu sehen, wer man sein könnte – anstelle eines antisemitischen, verlogenen Mistkerls!

Einen wichtigen Impuls bekommt Sam auch von seinem plötzlich auftauchenden Onkel Boris (grandios: Judd Hirsch), ein Zirkusartist, der Sam klarmacht, dass die Entscheidung zwischen Kunst und Familie ihn zerreißen wird: Kunst sei schließlich kein Spiel, sondern viel mehr so, als stecke man seinen Kopf in das Maul eines Löwen. So traut sich Spielberg in seinem bislang persönlichsten Film auch zu zeigen, dass die Ehe der Eltern einfach nicht mehr zu retten war; zu sehr fühlte sich seine Mutter zu dem Hausfreund der Familie hingezogen.

Dieser Film, den Spielberg erst nach dem Tod seiner Eltern drehte, ist für seine Verhältnisse erstaunlich ambivalent. Dennoch hätte man sich gewünscht, das Drehbuch, das er zusammen mit seinem Stammautor Tony Kushner geschrieben hat, würde an einigen Stellen noch tiefer in seine Erfahrungen mit Antisemitismus und das von seinen Eltern verursachte Familiendrama eintauchen. So wirkt das Coming-of-Age-Drama streckenweise zu inszeniert, fesselt aber dennoch ungemein, nicht zuletzt durch die berührende Musik seines mittlerweile 91-jährigen Stammkomponisten John Williams.

Außerdem hat Spielberg in jedem seiner Filme den Rat beachtet, den er einst von John Ford (David Lynch in einem köstlichen Cameo-Auftritt) bekam: Achte beim Filmemachen stets auf einen interessanten Horizont!

Foto (c) Universal Pictures