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Noch eine wahre Geschichte
Das stille und dennoch kraftvoll erzählte Bruderdrama „Sture Böcke“ überzeugt durch seine hohe Erzählkunst.
Selten hat man sich im Kino heimlich mehr gefreut, dass ein Schafsbock „100 Prozent Performance“ abgeliefert und alle verbliebenen Schafdamen geschwängert hat, als in Grímur Hakonarsons zutiefst berührender Tragikomödie „Sture Böcke“. In Cannes erhielt der Regisseur, der sichtlich auch im Dokumentarfilm zu Hause ist, dafür zu Recht den Hauptpreis der Sektion „Un Certain Regard“. Beim Filmfestival in Zürich räumte er in diesem Jahr das „Golden Eye“ für den besten Film ab.
Dem Film liegt ein Bruderzwist zugrunde. Die sturen Geschwister Gummi und Kiddi, die so grandios von Sigurdur Sigurjónsson und Theodór Júlíusson verkörpert werden, leben in einem abgelegenen Tal im Norden Islands. Obwohl sie direkt nebeneinander wohnen, haben sie bereits 40 Jahre nicht miteinander gesprochen. Wenn es gar nicht anders geht, kommuniziert man mittels eines Border-Collies, der mit Briefpost zwischen den beiden Sturköpfen hin- und herwetzt.
Gummis und Kiddis Leben und das aller anderen in dieser gottverlassenen Gegend sind ihre Schafe. Mit ihren Wollpullovern und den zotteligen Bärten sehen die beiden schweigsamen Schafzüchter mittlerweile auch aus wie ihre blökenden Freunde. Ihre von Wind und Wetter gezeichneten Gesichter werden von Kameramann Sturla Brandth Grøvlen genauso grandios eingefangen wie die schroffe Landschaft, die die Geschichte der beiden atemberaubend miterzählt. Zu Recht wurde der junge Norweger auf der letztjährigen Berlinale für seine beeindruckende Kameraarbeit für den One-Take-Film „Victoria“ mit dem Silbernen Bären geehrt.
Nach einem Züchterwettbewerb, bei dem der verhasste Bruder ganz knapp gewinnt, inspiziert Gummi, aus dessen Perspektive der Film erzählt wird, heimlich Kiddis Schafe. Sein Verdacht bestätigt sich leider – die hochansteckende Traberkrankheit ist unter den Wolllieferanten ausgebrochen! Alle Tiere des Tales, die für ihre Einwohner die Lebensgrundlage bedeuten, müssen notgeschlachtet werden. Frühestens in zwei Jahren wird man wieder mit der Zucht beginnen können.
Wer nun vielleicht denkt, fortan nur noch eine abwegige, spannungsarme Geschichte vor sich zu haben, der wird durch die hohe Regie-, Kamera- und Schauspielkunst aller Beteiligten eines Besseren belehrt. Selten wurde in einem Film so wenig gesprochen und dennoch so viel erzählt. Gummi beschließt, nicht alle seine Schafe zu töten, sondern in seinem Haus eine Mini-Zucht aufrechtzuerhalten. Doch eines Tages vernimmt ein Veterinär, der mal eben Gummis Toilette benutzt, aus dem Keller verdächtige Geräusche.
Der Zuschauer ist mittlerweile so sehr in die Haut des wortkargen Einsiedlers geschlüpft, dass die stille Panik, die Gummi überfällt, auch für ihn spürbar wird. Und genau darin besteht die Meisterleistung Grímur Hakonarsons: Obwohl die Geschichte nicht eines gewissen abgrundtiefen Humors entbehrt, gerät sie nie in die typischen Fahrwasser der nordisch-lakonischen Komödie, verrät ihre Figuren nie an eine flache Pointe. Was sich fortan abspielt, besitzt eine überaus archaische Kraft. Das Ganze mündet in ein ergreifendes Schlussbild, das sich in das Gedächtnis einbrennt.
Stimme / Dez. 2015