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Foto (c) Joss Barrett

Die Wut wächst weiter 

Der 83-jährige Filmemacher Ken Loach zeigt sich mit seinem atemberaubenden Sozialdrama „Sorry We Missed You“ auf der Höhe seines Schaffens: Schonungslos entlarvt er die Folgen eines turbokapitalistischen Systems und fordert zum Umdenken auf.

Ein Film sei wie ein Eisberg im Ozean, sagte Ken Loach, der filmische Anwalt der armen Leute, einmal: „Man sieht zwar nur die Spitze, aber man kann das gewaltige Gewicht dieses Blocks unter der Wasseroberfläche durchaus spüren.“ Das trifft auf die meisten Werke des Briten zu, besonders aber auf „Sorry We Missed You“, den womöglich besten Film des 83-jährigen Regisseurs. Wer dieses meisterhafte Drama über einen scheinselbstständigen Paketfahrer, eine freiberufliche Altenpflegerin und deren Kinder sieht und nicht von dem Gefühl übermannt wird, dass sich Grundlegendes ändern muss an dem System, in dem wir leben und arbeiten, muss ein Herz aus Stein haben.

Seit über 50 Jahren zeigt Loach in seinen Spielfilmen die gesellschaftlichen Missstände auf, unter denen die kleinen Leute in Großbritannien zu leiden haben. Bereits sein frühes Doku-Drama „Cathy Come Home“ von 1966 stieß in seiner Heimat eine politische Debatte an, die zur Änderung der Obdachlosen-Gesetze beitrug. Loachs letzter, mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichneter Film „Ich, Daniel Blake“, der sich mit den Tücken der Sozialbürokratie beschäftigt, wurde wieder heiß im Parlament diskutiert. Unterdessen haben sich die Arbeitsbedingungen in Europa kaum verbessert, im Gegenteil, die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander, und die Mittelschicht erodiert zusehends.

„Was ist eigentlich aus dem Achtstundentag geworden?“, fragt nun auch eine nette alte Dame ihre abgehetzte Betreuerin Abbie (Debbie Honeywood) in „Sorry We Missed You“. Diese Frage kann Abbie, die mit ihrer Familie in Newcastle lebt, auch nicht beantworten. Sie selbst hat einen Zero-Hour-Arbeitsvertrag, das heißt, sie bekommt den Mindestlohn bezahlt und das auch nur für die Zeit, in der sie tatsächlich Klienten betreut. Jede Minute, die die herzensgute Frau aus Mitgefühl mit den bittereinsamen Alten verbringt, bekommt Abbie nicht entlohnt.

Das Los der Ausgebeuteten

Deshalb trifft es sie hart, als sie auch noch ihr kleines Auto verkaufen und fortan alles mit dem Bus erledigen muss, damit ihr Mann Ricky (Kris Hitchen) einen Transporter finanzieren und sich so als Paketfahrer selbstständig machen kann. Doch selbstständig ist Ricky nur auf dem Papier. In Wirklichkeit zwingt ihn sein Franchise-Vertrag nicht nur dazu, erst einmal kräftig in Vorkasse zu gehen, sondern er muss auch noch für jede ausgefallene Stunde hohe Strafgebühren zahlen. Sein Boss (Ross Brewster) kennt da kein Pardon. Deshalb schuftet Ricky fortan von früh bis spät für das Unternehmen. Ähnlich ergeht es seiner Frau Abbie, die die gemeinsame Tochter Liza Jane (Katie Proctor) und den pubertierenden Sohn Seb (Rhys Stone) nur noch über das Handy „betreuen“ kann. Auch als Seb immer mehr aus der Spur gerät, die Schule schwänzt, Graffiti sprayt und zu klauen beginnt, erlauben es die gnadenlosen Arbeitsverhältnisse seiner Eltern nicht, sich mehr um ihn und seine elfjährige Schwester zu kümmern.

In tristen Bildern, mit sehr sparsam eingesetzter Filmmusik, zeigen Loach und sein Stammautor Paul Laverty, wie die Familie zusehendes implodiert; wütend und machtlos schauen sie ihnen zu. Jeder der beteiligten Schauspieler weiß dabei durch seine Performance zu fesseln, was auch daran liegt, dass Loach stets chronologisch dreht, ohne dass seine Darsteller wissen, wie ihre Geschichte ausgeht.

Nun, sie endet – im Gegensatz zu Loachs vorangegangen Filmen – ohne auch nur einen Funken Hoffnung, dass sich an dem menschenverachtenden System jemals etwas ändern könnte. Auch sein Galgenhumor scheint Loach weitestgehend vergangen zu sein. Doch auch der einzelne Mensch im Getriebe des Systems bekommt in diesem schonungslosen Film sein Fett weg – Loach prangert auch unsere mangelnde Solidarität untereinander an. Wer nach diesem Drama weiterhin völlig ohne Gewissensbisse Paket für Paket beim Onlinehändler bestellt, muss ein besonders dickes Fell haben.

BLICK.de 7 Jan. 2022