Herr der Kinder
Christopher Roth verfilm Jeanne Tremsals Erinnerungen an die berüchtigte Otto-Mühl-Kommune
„See you in hell“ sagt die 14-jährige Jeanne zum Abschied stets unbeschwert zu ihrem besten Kumpel. Ab und an zeigt sie ihm auf sein Betteln hin auch ihre Brüste. Jeanne lebt Ende der 1980er Jahre mit anderen Kindern in einem Inselparadies im österreichischen Burgenland. Ihre Eltern, die in der Stadt arbeiten, bekommen sie nur selten zu Gesicht. Wenn sich einer der Erwachsenen, die auch dort leben, verliebt, wird er bei der nächsten Vollversammlung vor allen gedemütigt und verbannt. Denn die bürgerlich-spießige Liebe ist in der berüchtigten Aktionsanalytischen Kommune von Otto Mühl, recht diabolisch dargestellt von Clemens Schick („Verlorene“), verboten. Nur Sex ist erlaubt. Der Gründer der Kommune hält die exklusive Zweierbeziehung ebenso wie die Kleinfamilie für das Grundübel. So haben die Männer keine eigenen Zimmer, sondern müssen jede Nacht eine andere Frau zum „Ficken“ finden. Ganz schön heterosexuell, diese ach so freie Gemeinschaft.
Lange akzeptiert Jeanne (Jana McKinnon) diese Regeln, die der österreichische Ex-Soldat und Aktionskünstler Mühl aufgestellt hat. Nach den wahren und von ihr selbst erlebten Begebenheiten schrieb Jeanne Tremal gemeinsam mit dem Regisseur Christopher Roth das Drehbuch und spielt in Roths zweitem Spielfilm nach „Baader“ zudem ihre eigene Mutter.
Erzählt wird mit Hilfe von Jeannes Voice-Over-Kommentar, der immer wieder zur Reflexion des Gesehenen zwingt. Im Verlaufe der Handlung entpuppt sich das vermeintliche Paradies mehr und mehr als vom systemischen Machtmissbrauch des Königs der Kommune geprägte Hölle. Jeanne verliebt sich in den eigensinnigen Jean. Nicht nur, dass Mühl daraufhin den 16-jährigen in eine Stadtkommune zum Geld verdienen schickt, er beginnt Jean auch nachts in ihrem Zimmer aufzusuchen und unter den Augen seiner beiden „Hauptfrauen“ zu begrapschen. Vermeintlich gleichberechtigte Frauen als Unterstützerin patriarchaler und faschististoider Systeme – leider ein zunehmend aktuelles Thema.
Jeanne beginnt erst sehr spät im Film wirklich gegen das missbräuchliche Regime Mühls aufzubegehren. So fragt man sich lange, wo die breit auserzählten Demütigungs- und Feierrituale, bei denen grauenvoll musiziert wird, eigentlich hinführen sollen. Nebenbei gesagt hat hat man Dirk von Lotzow als Gitarre spielender Kommunarde nie derart grauslig singen hören. Trotz allem dennoch eine sehenswerte Reflexion über die Gefahr des Machtmissbrauchs bei dem Versuch eine bessere Welt zu erschaffen.
In: Kölner Stadtanzeiger von Nov. ’22
Foto (c) Port au Prince Pictures / Lydia Richter