Die Schönheit des Andersseins
In seinem Film »Rose« erzählt der dänische Regisseur Niels Arden Oplev von der Busreise einer schizophrenen Frau nach Paris
»Ich will dich erwürgen«, sagt Inger manchmal völlig unvermittelt. Die 38-jährige Dänin ist nämlich schizophren. Dennoch wagen ihre Schwester und ihr Schwager mit ihr eine einwöchige Busreise nach Paris, wo sie als junge, noch gesunde Frau mal gelebt hat. Bis ihr ein verheirateter Franzose das Herz brach. Kurz darauf begann sie, Stimmen in ihrem Kopf zu hören. Die Mitreisenden sind natürlich alles andere als begeistert, als sie zu Beginn der Reise von Ingers schizophrener Psychose erfahren.
Was wie eine im Drehbuchseminar konstruierte Geschichte klingt, hat sich tatsächlich so ereignet. Regisseur Niels Arden Oplev, der 2011 den British Academy Film Award für die Verfilmung des Romans »Verblendung« von Stieg Larsson erhielt, hat nämlich selbst Schwestern, die dies gemeinsam erlebten.
1997, kurz nach dem tragischen Autounfall von Prinzessin Diana, der im Film auch eine Rolle spielt, reiste seine »gesunde« Schwester (Inger) mit ihrem frisch angetrauten Ehemann tatsächlich mit dem Bus nach Paris. Dort hat sie als junge Frau einige glückliche Jahre verbracht. Was sich da ereignete, hat Oplev geschickt verdichtet und einen berührenden Film über gelebte Inklusion gedreht. Sofie Gråbøl, manch einem als Kommissarin Lund aus der gleichnamigen dänischen Kriminalserie bekannt, verkörpert preisverdächtig Inger, deren verflossener Liebhaber ihr einst den Kosenamen »Rose« gab.
Schon als Inger, die seit vielen Jahren ihr Heim nicht verlassen hat, in gebückter Haltung, mit schlurfendem Schritt und stoischer Mimik am Bus ankommt, ist klar, dass irgendwas mit ihr nicht stimmt. Als sie dann bei der Vorstellungsrunde ihre Krankheit offen zugibt, ist insbesondere der spießige Schulinspektor Andreas (Søren Malling) über diese Zumutung entsetzt. Immer wieder starrt er Inger fassungslos an. Ihr von ihrem zweiten Ich eingeflüsterter Kommentar »Willst du mich ficken?« ist da wenig hilfreich.
Sein zwölfjähriger Sohn Christian (Luca Reichardt Ben Coker) ist allerdings fasziniert von Inger und freundet sich mit ihr im Laufe der Reise an. In einer berührenden Szene, als Rose an einer Autoraststätte alle aufhält, indem sie vehement darauf besteht, einen totgefahrenen Igel am Straßenrand zu begraben, leert Christian flugs eine Pralinenschachtel, um einfach ihrem Wunsch nachzukommen. So kommt das tote Tier zu einem würdigen Begräbnis.
Auch ihre Schwester Ellen (Lene Maria Christensen) zeigt, wie positiv sich ein respektvolles Umfeld auf Menschen mit psychischen Erkrankungen auswirken kann. Im Gegensatz zur überfürsorglichen Mutter der Schwestern, ist sie stets darum bemüht, Ingers Recht auf Selbstbestimmung zu achten. Dennoch kommt sie, ebenso wie ihr warmherziger Mann Vagn (Anders W. Berthelsen), der zuweilen ähnlich wie Inger manche Situationen nicht richtig einzuschätzen versteht, immer wieder an ihre Grenzen. Oplev unterschlägt nicht, welche Gefahr und Überforderung Inger für sich und andere darstellt. So kann es ihr plötzlich in den Kopf kommen, auf eine dicht befahrene Straße zu laufen, oder sie weigert sich schlicht und einfach tagelang zu baden.
Aber Inger hat eben auch eine andere Seite, die immer wieder versucht, sich gegen die Krankheit zu stemmen. Sie ist auch großzügig und hilfsbereit, hat ein gutes Gespür für Stimmungen und einen speziellen Sinn für Humor, der dem Film viele komische Momente beschert. Außerdem spricht sie als Einzige in der Reisegruppe fließend Französisch. So bewahrt sie mit ihren Sprachkenntnissen bei einem Ausflug in das D-Day-Museum in der Normandie die Gruppe vor einer großen Enttäuschung.
Auch Paris und sein romantisches Flair spielt eine nicht unwesentliche Rolle in dem Film. In einer stimmungsvoll eingefangenen Szene führt Inger Ellen, Vagn, Christian und seine Mutter mit geschlossenen Augen zu einer bestimmten Stelle in Monets Garten in Giverny, so wie es einst ihre große Liebe Jacques getan hat. Im Schloss von Versailles zeigt sie Christian Jacques’ letzten Brief. Der mitfühlende Junge schlägt dessen Namen daraufhin im Telefonbuch nach und findet heraus, dass er immer noch dort wohnt. Am freien Tag der Reisegruppe beschließt Inger spontan, ihn noch einmal aufzusuchen.
Von der ersten bis zur letzten Minute folgt man gespannt der Geschichte, die zuweilen genauso unberechenbar ist wie ihre Protagonistin. Mehr und mehr wächst einem Inger ans Herz, deren Erlebnisse zunehmend aus ihrer Perspektive erzählt werden. Und man stellt sich die Frage: Wer ist schon normal? Der Schulinspektor, der so ein verkrampftes Bedürfnis nach Normalität hat, dass er Inger heftig ablehnt und diskriminiert, ganz gewiss nicht. Urkomisch, als er wieder einmal in Rage über Ingers Unberechenbarkeit seine Jacke versehentlich auf Napoleons Sarg im Museum fallen lässt, der Alarm losgeht und die Polizei ihn abführt.
Oplev bezeichnet seinen Film als »Liebeserklärung an seine beiden Schwestern und alles, was sie durchgemacht haben«. Doch er ist viel mehr: Ein unterhaltsames Lehrstück in Sachen Toleranz und der Schönheit des Andersseins. Inger hat der Film übrigens bei der Vorführung im engsten Familienkreis gefallen.